Nie wieder ...
aber doch immer wieder?
Erneut erleben wir in diesen Wochen eine Welle großer und kleiner Demonstrationen. Viele Menschen zeigen ihre Sorge davor, dass rechte Parteien Regierungsgewalt ergreifen; dagegen wollen sie sich wehren. Ein großes „Nie wieder ...!“ liegt in der Luft, und das ist gut und notwendig.
Fragen wir danach, wofür genau die drei Pünktchen vor dem Ausrufezeichen stehen, dann zeigt sich, dass sich mit dem guten Willen Ansichten und Anliegen verbinden, die durchaus unterschiedlich sein können. Es lohnt sich, mal in Ruhe anzuschauen, was es mit dieser Willensbekundung auf sich hat, und dafür auch einen Blick in die Vergangenheit zu werfen.
Das Grauen des Ersten Weltkriegs noch ganz frisch vor Augen startete die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) 1919 die Kampagne „Nie wieder Krieg!“. Die Parole sprach ganz offensichtlich vielen Menschen aus dem Herzen: Auf für die damalige Zeit unglaublich riesigen Demonstrationen mit bis zu 500.000 Teilnehmenden rief sie nicht nur die Erinnerung an die Greuel des Erlebten wach. Damit wurde ein großer Wunsch formuliert, sie blieb dabei aber nicht stehen. Bertha von Suttner, die die DFG ins Leben gerufen hatte, hatte in ihren Schriften auch dafür geworben, nach vorne schauend aktiv zu werden gegen all das, was Kriege entstehen lässt und möglich macht.
Die Grafikerin Käthe Kollwitz griff diesen Gedanken auf. Seit Generationen wird ihr Plakat immer wieder gezeigt. Mit „nie wieder Krieg“ machte sie Werbung für den „Mitteldeutschen Jugendtag“ – ein Großevent der sozialistischen Bewegung – und gab damit der hoffnungsvollen Idee von einer grundlegenden Veränderung eine besondere Prägung. Mit den Worten von heute würden wir sagen: Sie trat ein für eine andere Welt, in der überwunden ist, was unweigerlich stets von Neuem die Voraussetzungen für Kriege schafft – Nationalismus, Kapitalismus, Patriarchat. (Müsste es nicht genau darum auch heute gehen?)
Es kam anders. Eine nationalsozialistische Regierung wollte den Krieg. Und sie wollte den Massenmord; sie schaffte es, die millionenfache Zustimmung und Beteiligung der Bevölkerung dafür zu gewinnen. Welches nie wieder ist danach eigentlich zulässig? Der israelische Soziologe Natan Sznaider erinnert an eine grundlegende Kontroverse um diese Frage. Hannah Arendt und Hans Magnus Enzensberger konnten sich 1965 nicht darüber einig werden: Ist es in Ordnung, nach nie wieder Auschwitz! zum Beispiel auch nie wieder Hiroshima! zu postulieren? Muss die mahnende Erinnerung an die Shoa nach der Monstrosität des Menschheitsverbrechens, begangen durch das nationalsozialistische Deutschland, nicht stets im Vordergrund stehen? Darf sie der Gefahr ausgesetzt werden, in einem nie wieder dies, nie wieder das! eingeebnet zu werden?
Wie auch immer eine theoretische Debatte um erlaubt oder nicht zu einem Ergebnis zu bringen wäre, es fällt doch auf, dass bereits aus diesem nie wieder Auschwitz! entgegenstehende Haltungen begründet werden. Für die Überlebenden des Konzentrationslagers war es selbstverständlich, die Forderungen miteinander zu verbinden und als Einheit zu begreifen: nie wieder Faschismus! nie wieder Krieg! skandierten sie beim Schwur in Buchenwald. Dagegen scheute Joschka Fischer nicht davor zurück, eben mit dem rhetorisch eindringlich gemachten Verweis auf den Holocaust seine Partei auf den Krieg gegen Jugoslawien einzustimmen.
In seinem Essay über „Mitgefühl und die Politik des nie wieder“ geht Natan Sznaider zeitlich weiter zurück. Er schreibt: „nie wieder sagt die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Hier wird das nie wieder unter dem Dach der Menschenrechte zur politischen Anklage gegen jeglichen Völkermord, Kolonialismus, Apartheid und Diktatur. nie wieder Gewaltherrschaft von Menschen über Menschen ist wohl eine der bekanntesten Beschwörungsformeln, die es heute gibt.
Aber es gibt auch ein alternatives nie wieder: nie wieder sagt die israelische Unabhängigkeitserklärung, und vor allem sagt sie auch nie wieder Wir. Der Holocaust ist ein historisches Verbrechen gegen die Juden. In diesem nie wieder geht es um ein Gruppenschicksal, ein Menschenschicksal, aber auch um Einzelschicksale. Der Kern hat sich verschoben von dem generellen nie wieder zu: nie wieder Opfer sein.“
Vielleicht müssen wir an dieser Stelle gar nicht so tief einsteigen in gedankliche Auseinandersetzungen um Universalismus und Partikularität. Heutzutage liegt das Problem ja eher darin, dass überhaupt nichts benannt wird. „nie wieder ist jetzt“ ruft eine Entschiedenheit auf, ohne zu sagen wofür. Wie praktisch: Jede und jeder füllt das mit den eigenen Vorstellungen. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, denn es eröffnet die Chance, sich der Widersprüche bewusst zu werden. Manchmal gelingt das; dann ist es gut. Meistens wahrscheinlich eher nicht. Und dann ist es brandgefährlich.
Die Beispiele dafür erleben wir aktuell: neben all den schrecklichen Dingen, die ohne besondere Berichterstattung Tag für Tag geschehen, erhalten die Gewaltakte von Magdeburg, Aschaffenburg und München ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. „Nie wieder!“ – Im Moment der Erschütterung sagt sich das schnell, und es ist so rigoros gemeint wie es klingt: „Was uns hier gerade begegnet ist, das soll sich für alle Zeit unter keinen Umständen wiederholen.“ Diese Empfindung, die viele mit anderen teilen wollen, ist nachvollziehbar. Gleichwohl müssen Fragen beantwortet werden: was genau ist denn geschehen? Was hat dazu geführt, dass es so weit gekommen ist? Welche Maßnahmen wären geeignet, um den Ursachen zu begegnen? Darauf zutreffende und angemessene Antworten finden zu müssen führt leicht zu Überforderung, zumal in der Aufregung der Situation.
In diese Kombination aus tiefem inneren Bewegtsein und tatsächlicher Unklarheit entfalten Botschaften ihre Wirkung, die nüchtern betrachtet überhaupt nichts mit dem aufwühlenden Ereignis zu tun haben. Es ist propagierte Fremdenfeindlichkeit, die hier Resonanz erfährt. Im Ernst: wie könnte ein Zustrombegrenzungsgesetz dafür sorgen, dass nicht weiterhin fast täglich eine Frau ermordet, alle drei Minuten ein Mädchen oder eine Frau Opfer häuslicher Gewalt wird?
Es ist gut, dass es nie-wieder-Regungen gibt. Ohne die Fähigkeit, Empfindungen zu spüren, ohne die Offenheit, sich erschüttert zu zeigen und dies zu teilen, ohne die Bereitschaft, sich gemeinsam mit anderen dafür ins Zeug zu legen, dass die Zukunft die Schrecklichkeiten der Vergangenheit nicht wiederholt, gäbe es keine soziale Bewegung. Dazu gehört unverzichtbar das Bemühen um einen klaren Blick auf wirkliche Ursachen. Von der Haltung der Bertha von Suttner und der Käthe Kollwitz sollten wir uns eine Scheibe abschneiden.@