Nr. 313    Erscheinungtermin: 04.08.2025
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64 Seiten
August 2025
Preis: 5,00 EUR



Inhaltsverzeichnis
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"Überall" - Die Atomare Drohung

Mit dem Zünden der ersten Bombe begann eine allumfassend andere Realität, schrieb der Philosoph Günter Anders

von Steffi Richter

Fukushima ist überall“ – wieder und wieder war dieses Statement nach dem 11. März 2011 zu vernehmen, sowohl in den Massen- und sozialen Medien als auch „live“ auf Plakaten bei anti-AKW-Demonstrationen. Und immer wieder fragte ich mich, ob das stimmt. Ist „Fukushima“ tatsächlich überall, oder verharmlost eine solche Aussage nicht den Unfall und seine Folgen für die unmittelbar betroffene Bevölkerung?

Und selbst wenn damit gemeint sein sollte, dass unter heutigen Bedingungen ununterbrochener Visualisierung von Katastrophen auch die Fukushima-Bilder zunächst im Frühling 2011 und dann alle Jahre wieder zur gleichen Zeit in alle Ecken der Welt fluten und omnipräsent sind – ist nicht auch das zu bezweifeln?

Im Rahmen unseres Atom-Forschungsprojektes kam ich dann endlich dazu, ein Buch zu lesen, das seit Jahren unberührt in meinem Regal gestanden hatte, und mir wurde klar, dass dieser Satz einen Vorläufer hatte, der viel mehr als eine einfache Aussage bedeutete, ja selbst mehr als eine warnende Protestlosung.

„Der Mann auf der Brücke. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki“ war 1959 erschienen, ein Jahr nach der Teilnahme seines Autors, des Philosophen Günther Anders (1902-1992), am „Fourth International Congress against A- and H-Bombs and for Disarmament“, der im August 1958 in Tokyo stattgefunden hatte. Mit zwei anderen Texten, die dieser unermüdliche Aktivist gegen atomare Aufrüstung und Denker des Nuklearen verfasst hat, ist es im Jahr 1982 erneut erschienen, in einem Band, dem er den „Reiztitel“ – so Anders selbst – „Hiroshima ist überall“ gegeben hat.

Zur Erinnerung: Anfang der 1980er Jahre intensivierte sich der Kalte Krieg erneut, es ging um die sogenannte Modernisierung von mit Atomsprengköpfen bestückten Mittelstreckenraketen; also um atomare Aufrüstung insbesondere in Europa durch die Stationierung von Pershing II und Cruise Missile auf westlicher Seite, und von SS 20 in Ost- und Mitteleuropa. Dagegen entfaltete sich eine bemerkenswerte Friedensbewegung, die immer wieder auch an Hiroshima gemahnte – und damit auch Nagasaki meinte, auch wenn es nur selten explizit genannt wird.

  • Hiroshima ist überall

Das also war die Ursprungslosung. Und geprägt hatte sie Günther Anders. Sinngemäß schon im August 1958, als er selbst Hiroshima und Nagasaki besucht und folgende Gedanken in sein Tagebuch geschrieben hatte: „Wo aber ist Hiroshima?“ Diese Frage bringt seine Zweifel zum Ausdruck, ob die heute „Atombombendom“ genannte Ruine der einstigen Industrie- und Handelskammer der Präfektur Hiroshima und das im August 1955 eröffnete „Friedensgedächtnismuseum Hiroshima“ wirklich die Katastrophe, die der Stadt widerfahren ist, symbolisieren, zeigen oder gar repräsentieren können. Ihren Wiederaufbau bezeichnete Anders provokativ als etwas, wodurch die Stadt ‘zum zweiten Male zerstört‘ werde: „Die Vernichtung ist vernichtet.“

Er bezweifelt, dass die Ruine – gemeint als „Pars pro toto“ der Zerstörung – wirklich für das zu symbolisierende Ganze stehen könne. Denn auch das verwüstete Hiroshima sei ja nur ein Teil gewesen. Ein Teil wovon? „Der ganzen atomaren Situation. Des ganzen möglichen Untergangs […].“

In gewissem Sinne existiert es aber doch noch, dieses verwüstete Hiroshima. Nämlich in den Herzen vieler, die das neue niemals gesehen haben und es niemals sehen werden. Die aber sollen kein anderes Bild von Hiroshima jemals kennenlernen. Und dieses Bild werden wir als Symbol verewigen und auf Räder stellen und durch die Welt rollen. Damit auch diejenigen, die es auch heute noch nicht wissen, endlich begreifen, daß der Name „Hiroshima“ keine Stadt bezeichnet, sondern den Zustand der Welt und daß sie auch in Hiroshima wohnen.

Was Anders hier, wie in allen anderen direkt der Atom-Problematik gewidmeten Texten, zum Ausdruck bringt, ist seine Überzeugung, dass der 6. August 1945 als „Stunde Null“ der Menschheit ein neues Zeitalter – das der Endzeit mit der Möglichkeit der Selbstauslöschung – eingeläutet habe. Seine „Japan-Blätter“ (wie er das Tagebuch auch nennt) würden nicht vom „Fernen Osten“, von Exotik handeln, sondern von „einem sehr nahen Osten“, von einem Land, „das durch die Namen Hiroshima und Nagasaki bezeichnet wird, in dem also das atomare Zeitalter zur wirklichen Erfahrung geworden ist“. Das Wesen dieses atomaren Zeitalters bestehe darin, dass – aus weltgeschichtlicher Perspektive – die Menschheit nun in der Lage sei, sich selbst zu vernichten, und dass es – aus räumlich-planetarer Perspektive – „den Begriff der ‚Ferne‘, … die Ferne selbst annulliert hat. Nicht nur Zeitgenossen sind wir heute, sondern Raumgenossen.“

„Überall“ in diesem Sinne lässt den Warnruf „Fukushima ist überall“ ebenso verständlich werden wie „Tschernobyl ist überall“. Zum einen impliziert es die Tatsache, dass radioaktive Wolken oder radioaktiv verschmutzte Gewässer nicht vor nationalen Grenzen halt machen – seien sie nun von Zwischenfällen beziehungsweise Unfällen in Atommeilern oder von nuklearen Bombenexplosionen verursacht. Letztere fanden zwischen 1945 und 1998 weltweit insgesamt 2053 Mal statt – eine bloße Zahl, die der Künstler Hashimoto Isao (*1959) in einem Video, das Zeitpunkt und Ort jeder dieser Explosionen sicht- und hörbar macht, veranschaulicht. Diese Explosionen haben vor allem die obere Erdatmosphäre mit großen Mengen an radioaktiven Partikeln durchsetzt, weshalb die US-amerikanische Biometrikerin und Umweltaktivistin Rosalie Bertell (1929-2012) konstatiert:

Und wir können tun, was wir wollen – das kommt auf uns herunter. Es ist noch lange nicht alles in die Nahrungskette gelangt, also wird es noch für lange Zeit herunterkommen – in die Ozeane, ins Plankton und die Fische und dann auf unseren Tisch. Es hat so riesige Ausmaße, dass es unweigerlich seine Auswirkungen haben wird, und wir haben keine Ahnung, wie wir es verhindern sollen.

Zum anderen funktionieren weder Atombomben noch Atommeiler in Kraftwerken ohne das als yellowcake bekannte gelbe Pulver, das aus Uranerz gewonnen wird. Dessen Abbau wiederum erfolgt an Orten, die von den nuklearen Produktionsstätten zwar weit abgelegen, mit ihnen als front-end aber von Beginn an untrennbar verkettet sind. So kam etwa ein Teil des Uranerzes für das Manhatten-Projekt in Los Alamos aus den Minen des am Great Bear Lake im Nordwesten Kanadas gelegenen Deline. Dort leben die zur ethnischen Gruppe der Dene gehörenden Sahtu, deren Männer das dort abgebaute Erz ab 1943 in Jutesäcken auf Schlitten und Booten gen Süden transportierten. Von dort verkaufte es die kanadische Regierung an die USA, die es in Oak Ridge und Hanford Site anreichern ließ und das Uran beziehungsweise Plutonium dann Los Alamos für die Entwicklung der Bomben zur Verfügung stellte. Viele der Sathu-Männer starben an Krebs.

  • front-end

Der von Peter Blow und Gil Gauvrau (1999) produzierte Dokumentarfilm Village of Widows erzählt vom Schicksal dieser am front-end der ersten Atombomben stehenden Indigenen. Zugleich berichtet er auch davon, dass im August 1998 eine zehnköpfige Gruppe der Sahtu Dene nach Hiroshima reiste, um sich bei den Opfern vom 6. August 1945 für ihr freilich nichtwissentliches Mitwirken an der Katastrophe zu entschuldigen. Einst selbst unwissend und ungeschützt dem radioaktiven Uranerz ausgesetzt, dessen Abbau sie zu Strahlenkranken (hibakusha ù¬øííº) werden ließ, brachten sie auf diese Weise ihre Verbundenheit mit den von der Uranbombe Verstrahlten (hibakusha ù¬øïíº) zum Ausdruck. Eine Verbundenheit, die auch sprachlich ihren Niederschlag gefunden hat, denn beide Zeichenkombinationen mit dem je verschiedenen mittleren Zeichen für baku (øí und øï) werden im Japanischen gleichlautend gelesen: hibakusha.

Auch die am Ende der atomaren Kette erforderlichen Lagerstätten von hoch toxischem Atommüll (back-end) befinden sich in scheinbar abgelegenen Regionen – oder sie sind großenteils noch gar nicht gefunden, der Müll daher auf riskante Weise „zwischengelagert“. Das trifft auch auf Japan zu, ein Land, in dem bis zum März 2011 trotz seiner hohen Erdbeben- und Vulkantätigkeit 17 Atomkraftwerke mit 54 Reaktoren in Betrieb waren. „They represented 12 % of all NPRs worldwide and 13 % of the world’s nuclear power generation capacity.“ Trotz der sich dann ereignenden „AKW-Erdbeben-Katastrophe“ setzt das „Atomdorf“ auch künftig auf nuklearisierte Erzeugung von Strom, in einer Größenordnung von mindestens 20%. „Japan is literally overflowing with spent nuclear fuel and radioactive residues.”

  • back-end

Doch ist weiterhin unklar, wo und wie der ständig anwachsende Atommüll eingelagert werden soll. Erst im Jahr 2000 wurde ein Gesetz bezüglich dessen Endlagerung verabschiedet. Der daraufhin in Gang gesetzte Prozess der Suche nach einem Endlager-Standort ist – wie „überall“ – nicht nur zwischen den zentralen Behörden und der lokalen Bevölkerung voller Konflikte. Er spaltet auch letztere vor Ort – wie einst schon bei der AKW-Standortsuche.

Selbst die koloniale Prägung von Japans Moderne gerät dabei ein weiteres Mal ins Visier. Denn ein auf Hokkaido gelegenes und als Endlager-geeignet eingestuftes Gebiet, in dem 2020 die beiden Gemeinden Suttsu und Kamoenai ihr Ja für eine erste Auswahl-Untersuchungsrunde (für die es zwei Milliarden Yen, etwa 16 Millionen Euro, Subventionsgelder geben würde) signalisiert haben, war einst Land der Ainu, das 1872 staatlich vereinnahmt und an Siedler aus dem japanischen „Mutterland“ verteilt wurde.

Im März 2021 hat sich daraufhin die „Hokkaido-Konferenz zur Beratung des Atommüll-Problems“ gegründet. Deren Initiatoren betonen vor allem, die Bevölkerung möge sich nicht durch kurzfristig fließende staatliche Subventionsgelder für Einrichtungen und Infrastrukturprojekte spalten lassen, die dann langfristig zu einer für die lokalen Gemeinschaften zu einer großen Belastung werden (und somit einen Teufelskreis in Gang setzen: immer größere Abhängigkeit vom „Atomdorf“ gegen immer mehr Subventionen). Zu den Initiatoren der Konferenz gehören der bekannte Autor Ikezawa Natsuki (*1945 auf Hokkaido) sowie die Ainu-Spezialistin Honda Yuko (*1957), Direktorin des Zentrums zur Erforschung und Vermittlung der Ainu-Kultur an der Universität Sapporo.

Sie verweist auf eben diese Kolonialgeschichte Japans gegenüber dem angestammten Land der Ainu und bezeichnet die Atommülllagerpläne nun ausgerechnet in diesen Gebieten als noch brutaler als die Geschehnisse vor eineinhalb Jahrhunderten. Mit der Wiederherstellung der Rechte des Ainu-Volkes müsse auch die Bewahrung des Rechtes auf das Leben aller, auch künftiger Generationen auf diesem so reichen Stück Erde einhergehen.

Die von Günther Anders seit August 1945 real gewordene planetarische Zeit- und Raumgenossenschaft trifft mithin auch auf einer strukturellen Ebene zu: „Überall“ dort, wo sich die beiden Enden (front-end und back-end) der nuklearen Energie-Produktion konkret lokalisieren, verschärfen sie die in modernen Gesellschaften ohnehin existierenden sozialen, kolonialen u.a. Hierarchien und Ungleichheiten erheblich – und zwar auch mittels entsprechender sprachlicher, bildlich-visueller, medialer u.a. kultureller Praktiken und Gegebenheiten, die selbst wieder von der atomaren Situation geprägt werden.

  • Sichtbarmachen der atomaren Situation

Aus dem bislang Dargelegten dürfte klar geworden sein, dass die beiden Signifikanten „Hiroshima“ und „Fukushima“ nicht nur die jeweiligen konkreten Orte bedeuten, sondern im Rahmen unseres Projektes zwei diskursive Knotenpunkte bilden, zwischen denen zeit-räumlich und strukturell ein Bogen gespannt wird. Auf diese Weise können auch genbaku und genpatsu, das „böse“ und das „gute“ Atom als zwei dichotomisch erscheinende Konstituenten des atomaren Zeitalters zugleich in ihrer vom Wesen her untrennbaren Verflechtung untersucht werden.

Dieses Zeitalter hat die weitere Entwicklung aller energetisch nuklearisierten Nachkriegsgesellschaften geprägt – selbstverständlich auch Japan, das im Projekt als „ein Fall“ der globalen atomaren Situation betrachtet wird. Im weiteren Verlauf meines Beitrages fokussiere ich mich auf die Frage, wie die genbaku-genpatsu-Dichotomie hier – und damit implizit auch anderswo – sichtbar gemacht, also visualisiert wurde (und wird). Was mit „Visualisierung“ gemeint ist, wird gleich erläutert. Mit dem Verweis auf den Philosophen Anders soll jedoch zunächst klargestellt werden, dass meine Herangehensweise an diese Frage weder eine medienwissenschaftliche noch eine bildwissenschaftliche ist. Sie ist eher als ein an alltagskulturellen Prozessen interessierter kulturphilosophischer Ansatz zu bezeichnen und vom Interesse getragen herauszufinden, wie das Atomare in den Alltag der Menschen gekommen ist. Wie hat es sich in Wahrnehmung und Denken, als „Nukespeak“ in die Sprache, in Gewohnheiten und „mentale Infrastrukturen“, ja selbst in die Körper eingeschrieben? Wie ist es trotz (oder wegen?) seiner Monstrosität zu einer Art Normalität geworden – das sprichwörtliche „Wasser, in dem ein Fisch schwimmt“? Günther Anders gilt als Philosoph der „Apokalypse“. Das ist schon deshalb nicht ganz korrekt, weil er sein Denken stets in den Dienst der Praxis der Anti-Atomkrieg-Bewegung stellte. Deren Ziel formulierte er so:

„Wir haben dafür zu sorgen, dass die Endzeit, obwohl sie jederzeit in Zeitenende umschlagen könnte, endlos werde; also dass der Umschlag niemals eintrete.“ – Da wir an die Möglichkeit des Zeitenendes glauben, sind wir Apokalyptiker; aber da wir die von uns selbst gemachte Apokalypse bekämpfen, sind wir – diesen Typ hat es zuvor nicht gegeben – Apokalypse-Feinde.

Auch sein zweibändiges philosophisches Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“ geht, insbesondere in Band II, konkreten Alltagspraktiken nach, um Mechanismen offenzulegen, wie die Menschheit sich in diese Endzeit hineinmanövriert hat. Seine damit einhergehende Technik-Kritik ist mittlerweile selbst Gegenstand von Kritik geworden, die unter anderem auf die von Anders unterschätzte subjektive Seite der Ermächtigung von Individuen in ihrem durchaus auch selbstbestimmt-eigensinnigen Umgang mit Technik zielt. Dennoch sind die von ihm dargestellten Einsichten in das Atomzeitalter für ein Projekt wie das von uns verfolgte unverzichtbar – und damit komme ich zur angekündigten kurzen Erläuterung von „Visualisierung des Atomaren“.

In der „atomaren Situation“, so Anders, werde alles in der Welt Seiende zu verwertbarem Rohstoff instrumentalisiert, also zu einem Mittel – ja die Welt selbst gilt als „auszubeutende Mine“. Die atomare Maschinerie und Apparatewelt würden die darin verwobenen Menschen in einen ihrer Teile verwandeln und somit jene Kluft potenzieren, die Anders auf den Begriff „Prometheisches Gefälle“ bringt. Als der zentralen Einsicht seiner Technikphilosophie meint dieser Begriff die nunmehr Existenz-bedrohende Kluft, die besteht zwischen der ständig vorangetriebenen Fähigkeit der Menschen, Dinge herzustellen, und der weit dahinter zurückbleibenden Fähigkeit, sich vorzustellen, was sie bewirken, welche Effekte sie haben. Veranschaulicht werden kann diese „Diskrepanz zwischen unserer Vorstellungs- und unserer Herstellungskapazität“ mit einer Phrase, die im Kontext der „AKW-Erdbeben-Katastrophe“ vom 11.3.2011 und danach immer wieder zu hören und zu lesen war: „Unvorhersehbar“ (soteigai ßÌïÒèâ), im Sinne auch von „unvorstellbar“. Soteigai seien sowohl die Stärke des Erdbebens als auch die gigantische Flutwelle gewesen, und in einem Hochtechnologieland wie Japan schließlich auch die katastrophalen Unfälle im AKW Fukushima I.

Mit diesem soteigai lassen sich zwei verschiedene Ebenen von „Nicht-/Visibilität“/ „Un-/ Sichtbarkeit“ aufzeigen, um die es nun gehen soll. Es bedeutet, erstens, eine Wahrnehmungsweise, die zugleich durch systemische Blindheit charakterisiert ist. Anders nennt sie (wieder und wieder) „Apokalypse-Blindheit“ – eben jene Unfähigkeit, Enormes zwar herstellen, es sich in seinen Folgen aber nicht vorstellen zu können. Der Philosoph Slavoj Žižek (*1949) wiederum spricht von den „unbekannten Bekannten“, von den „verleugneten Überzeugungen und Annahmen, von denen wir selbst nicht wissen, dass wir ihnen anhängen“, die aber die Matrix unserer öffentlichen Werte bilden. Zweitens ist mit der die Katastrophenbilder begleitenden steigai-Phrase auch ein gezieltes Unsichtbar-Machen beziehungsweiseVerschweigen beabsichtigt, das bis hin zur Zensur oder zur Lüge reichen kann. Erinnert sei etwa an die Worte des damaligen Kabinettsekretärs Edano Yukio vom 15. März 2011 that, “for the time being there is not much worry concerning health”.

Beide Un-/Sichtbarkeitsmodi sind eng miteinander verbunden – was schnell klar wird, wenn zunächst einmal versucht wird, der enormen Quantität wie auch der Vielfalt bildlicher Darstellungen von genbaku- und genpatsu auf die Spur zu kommen und sie (im Fall von einst Zensur-bedingtem Verbot: wieder) zugänglich zu machen. Das an sich ist bereits eine große, auch zeitaufwändige, Aufgabe.

Die eigentliche Herausforderung an kritische Wissenschaft aber besteht darin, das potentiell Sichtbare nicht nur wiederzugeben – im doppelten Sinne: es aus Archiven und anderen Sammlungen, Depots wieder „ans Licht zu holen“ und einem Publikum zu präsentieren. Erforderlich ist zudem, diese Fülle an Film-, Bild- und anderem Material zu deuten und Strukturen, Zusammenhänge, Kontexte, die eben nicht von selbst aufscheinen, sichtbar zu machen. Also sich der blinden Flecken bewusst zu werden und sie – wie auch die unknown knowns – aufzudecken. Für unser Atom-Projekt bedeutet es, das Dispositiv zu ergründen, das zu jener Dichotomisierung von bösem und gutem Atom geführt hat, die bis heute dominant ist. Diese Dichotomie ist auch bildlich hergestellt und sedimentiert worden – durch visuelle und audiovisuelle Medien und Apparate, die unsere Vorstellungen vom Nuklearen entscheidend mitgeprägt haben. Nur einige seien hier genannt:

Eine Vielfalt an Bildmaterial in allen möglichen Printmedien, Photographie, Film (Dokumentar-, Spiel- unter anderem Filme), Comics/Manga, Games, Malerei/Bildende Kunst, Poster, Postkarten; Rock-/Pop-Music-Shows, Anzeigen auf Beobachtungs- und Messgeräten (Geigerzähler).

Diese mannigfaltigen Visualisierungen in wiederum sehr verschiedenen Kontexten (wie Wissenschaft, Erziehung, Unterhaltung (beziehungsweisebeides: edutainment), Journalismus, Propaganda) sind sowohl historisch und sozial bedingt, als auch von der beschleunigten Entwicklung von Technik und Technologie (der Maschinerie und Apparatewelt) bestimmt, über die sie miteinander verwoben sind. So haben Computerisierung und Digitalisierung diese Mannigfaltigkeit quantitativ erweitert und „neue Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure“ hervorgebracht. (...) @

Steffi Richter ist Japanologie-Professorin i.R. an der Universität Leipzig (1996-2022). DFG-Projektleiterin „Die gespaltene Gesellschaft. Diskursive Konstitution Japans zwischen Atombombe und Atomkraftwerk“ (2019-2023).

Weitere Forschungsfelder sind: Ideengeschichte und Kritik im frühneuzeitlich-modernen und gegenwärtigen Japan, Konsum und moderne Identitäten, Geschichtsrevisionismus in Japan/ Ostasien, seit März 2011: Atomkraft/-kultur und Protestbewegungen im gegenwärtigen Japan und darüber hinaus.

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