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Autoritaere Dynamiken

und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2024



Entstanden in den 1920er Jahren, um das Aufkommen des Faschismus zu erklären, war die Autoritarismus-Forschung der Versuch, die politische Einstellung der Menschen in ihrem engen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Widersprüchen zu verstehen. So war in der Kritischen Theorie mit „Autoritarismus“ nicht eine bloße Einstellungs- und Vorurteilsforschung gemeint, sondern damit ebenso eine Gesellschaftskritik verbunden: die Kritik der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Menschen diese destruktiven Einstellungen hervorbringen.

Obwohl die Ziele der faschistischen Bewegungen vor hundert Jahren den Interessen der meisten Bevölkerungsgruppen diametral entgegenstanden, hatten sie doch in fast allen politischen Milieus ihre Anhänger*innen. Darüber hinaus zeigte sich in den empirischen Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main unter seinem Leiter Max Horkheimer Ende der 1920er Jahre, dass nicht nur unter den Anhängern faschistischer Bewegungen eine latente Sehnsucht nach Autorität und Gruppenidentität bestand. Auch bei jenen, die sich auf einer bewussten Ebene für die Ziele der demokratischen Parteien, der Gewerkschaften oder auch der Kirchen aussprachen, war der Wunsch nach einer »Prothesensicherheit« der Autorität groß.

Ebenso war die Wut auf Schwäche und die Legitimation ihrer Aggressionen bei ihnen zu finden. Gerade einmal ein Sechstel der Befragten war offen für eine demokratische Gesellschaft und bereit, sie zu verteidigen – so stellte es Fromm nach Auswertung einer breit angelegten Fragebogenstudie fest. Die überwiegende Mehrheit war – egal ob Sozialdemokraten, Linkssozialisten, Kommunisten, Bürgerliche oder Nationalsozialisten – anfällig für die faschistische Propaganda der unterwürfigen Verehrung von Stärke und des Hasses auf Schwäche und scheinbare Abweichung.

Erich Fromm war als Sozialforscher an der Umsetzung der ersten Autoritarismus-Befragung beteiligt. Aber er war auch Psychoanalytiker. Wahrscheinlich deshalb fiel ihm angesichts der beschriebenen Dynamik die frappierende Ähnlichkeit zu einer Perversion auf, dem Sadomasochismus: »Daß die Unterwerfung unter eine Autorität lustvoll sein kann, macht es erst verständlich, daß es so verhältnismäßig leicht war, Menschen zur Unterordnung zu zwingen«

Fromm erkannte das »sadomasochistische Syndrom« aus autoritärer Unterwürfigkeit, autoritärer Aggression und Betonung der Konventionen als Spiegel einer Gesellschaft, in die ihre Mitglieder von Kindesbeinen an gewaltvoll hineinwuchsen und die ihre Herrschaft immer wieder auf Macht und Stärke begründete. Entschädigt wurden die Individuen durch die Identifikation mit derselben Macht, der sie sich eben noch unterworfen hatten. Waren auch Bedürfnisse verpönt, die sich nicht in das Schema einfügten, so konnten sie sich doch schadlos halten im Genuss der Unterwerfung von anderen.

Im Anschluss an Erich Fromm widmete sich die Arbeitsgruppe um Theodor W. Adorno und Else Frenkel-Brunswik im US-amerikanischen Exil der autoritären Persönlichkeit und erweiterte Fromms Bild des autoritären Charakters um zusätzliche Facetten. Neben den Sadomasochismus traten weitere Psychodynamiken. Eine dieser Erscheinungsformen des Autoritären war der Glaube an eine große Verschwörung und an dunkle Mächte, die im Hintergrund bedrohliche Dinge aushecken.

Zur Unterwerfung unter eine Autorität gehört auch die Anerkennung der durch eben diese Autorität repräsentierten Realität, selbst wenn sie auf Kosten des Eigenen geht. Nimmt die reale Hilflosigkeit so drückende Formen an, dass auch die Anerkennung einer Autorität keine Aussicht auf Macht und Kontrolle mehr versprechen kann, bleibt noch die Flucht aus der Realität. Anstelle einer Autorität wählen die Mitglieder die Gruppe zu ihrem Ideal. Die autoritäre Gruppe wird durch Verschwörungserzählungen und geteilten Aberglauben aneinander gebunden, ihr Bindeglied ist die Verleugnung der Realität. Dabei kann die Verleugnung der Realität so weit gehen, dass selbst miteinander konkurrierende Verschwörungsnarrative gleichzeitig bei denselben Menschen Anklang finden – selbst wenn sich die Erzählungen widersprechen. Alles, was außerhalb dieser Gruppenfantasie liegt, wird als Bedrohung der neuen Gruppenrealität empfunden und verfolgt.

Fiel dem Psychoanalytiker Fromm die Nähe des »klassischen autoritären Typus« zum Sadomasochismus auf, so weist auch das neue Syndrom eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einer anderen Variation des Sexualverhaltens auf: dem Fetischismus. Dem Fetischisten ist ebenfalls grundsätzlich zugänglich, dass seine sexuelle Präferenz für Dinge mindestens ungewöhnlich ist, jedoch bleibt diese Anerkennung der Realität gleichzeitig ohne Konsequenz für seine Vorliebe. Die sich daraus ergebende Doppelbewegung aus Verleugnung und Anerkennung ist eine Möglichkeit, mit einer der Erfüllung des Wunsches entgegenstehenden Realität umzugehen.

Leugnung

Verleugnung ist psychoanalytisch gesprochen ein Abwehrmechanismus. Er ermöglicht, an einem Wunsch gegen jede Realität festzuhalten und doch halbwegs alltagstauglich zu bleiben. Dabei betreffen Verleugnung und Fetischismus nicht allein Einzelschicksale, sie erfassen ganze Gruppen. Wie einem Verschwörungstheoretiker eigentlich die Absurdität seines Wahngebildes klar ist, er es aber trotzdem mit aller Dringlichkeit braucht, so verhält sich in gewisser Weise die ganze Gesellschaft. So besteht die Chance, über diese Psychodynamik des autoritären Fetischismus etwas über die Gesellschaft und ihr Zentrum zu erfahren.

Denn weder Sadomasochismus noch Fetischismus sind Phänomene der Vergangenheit. Wenn ein autoritärer »Führer« nicht zu sehen ist, wird die bestehende autoritäre Dynamik in der Gesellschaft meistens unterschätzt. Aber auch heute finden wir sie durchzogen von autoritären Aggressionen, auch heute richtet sich der Hass gegen jene, die schwach oder abweichend erscheinen. Sei es, weil sie die Fantasie wachrufen, »anders« zu sein, oder mit ihrem Verhalten gegen Konventionen verstoßen.

Migranten, Juden, Sinti und Roma oder Homosexuelle ziehen Hass auf sich, so zeigt es unsere Studienreihe seit Jahren und so müssen wir es auch in der aktuellen Leipziger Autoritarismus Studie wieder feststellen. Dabei sind diese Ressentiments in der vielbeschworenen »Mitte« der Gesellschaft nicht nur weit verbreitet, etwas in der Mitte der Gesellschaft, in ihrem Zentrum, bringt sie überhaupt erst hervor. Um einen Zugang in dieses Zentrum zu erhalten und den Ursprung zu ergründen, bedarf es der genauen Betrachtung der Individuen samt ihrer Einstellung, Ressentiments, Erwartungen und Gefühle.

Fetisch Wachstum

Eine autoritäre Masse kann nicht nur durch einen »Führer«, sondern durch ein abstraktes Gruppenideal konstituiert sein. Schon in der Vergangenheit stellten wir fest, dass die Autorität, mit der die Menschen in Deutschland identifiziert sind, die Größe und Macht der »nationalen Wirtschaft« ist. Auch deshalb ist wahrscheinlich seit einigen Jahren der Wunsch nach einem autoritären Führer in der Regel niedriger, als es die Aggressionen sind. Der Fetischismus bietet einen Zugang zur autoritären Dynamik, deren gesellschaftliches Zentrum im Wesentlichen von der Ökonomie bestimmt ist. Die Art und Weise, wie die Lebensgrundlagen der Menschen hergestellt werden, ist ein zentrales Merkmal von Gesellschaften. Man kann sie in der Geschichte und in der Gegenwart deshalb an der Produktionsweise unterscheiden.

Eine auf Wachstum geeichte, warenproduzierende Gesellschaft besteht schon seit dem 19. Jahrhundert, und seit ihrer Durchsetzung ist die Verleugnung die Voraussetzung dieser Art des Wirtschaftens. Wie die Waren produziert werden, was die Lebenskosten für diejenigen sind, die sie herstellen müssen, und wie der solcherart produzierte Reichtum verteilt wird, bleibt im Zwischenraum von Wissen-Können und Nicht-wissen-Wollen.

Entsprechend beschreibt der heutige Leiter des Instituts für Sozialforschung, Stephan Lessenich, die Verleugnung als zentrale Abwehr einer auf beschleunigtes Wachstum angelegten Ökonomie. Wenn Lessenich für sein Buch den programmatischen Titel »Neben uns die Sintflut« wählt, bringt er diesen Abwehrmechanismus unter der Hand auch mit einer Katastrophe biblischen Ausmaßes zusammen, man könnte sagen mit einer Apokalypse. Auch wenn er die Verbindung nicht zieht, Apokalypse und Verleugnung sind eng verbunden mit der autoritären Dynamik der Gegenwartsgesellschaft.

Krise und Apokalypse

Seit mehr als einem Jahrzehnt bestimmen Krisen das Leben der Deutschen. Sie folgen dicht auf dicht, teilweise überlappen sie sich. Sie erfassen den Kapitalmarkt und die Weltwirtschaft, es gibt eine Migrationskrise, eine durch den Klimawandel ausgelöste ökologische Krise, die COVID-19-Pandemie. Auch die Kriege gegen die Ukraine und im Nahen Osten sind Teil dieser krisenhaften Gegenwart. Kein Wunder, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort »Krisenmodus« zum Wort des Jahres 2023 kürte. Auch Begriffsschöpfungen wie Multikrise oder Polykrise sind Ausdrücke einer durch die Zeitgenossen wahrgenommenen Krisenkonjunktur. Und es stimmt sehr wohl: Unsere Gegenwart ist an Herausforderungen und destruktiven Potenzialen alles andere als arm. Wenn aber die beständige Krisenrhetorik nicht in einer Lösung mündet, taucht der Verdacht auf, dass die Rede über die Krisen eher der Verleugnung als der Anerkennung der Realität zuzurechnen ist.

Bei genauerem Hinsehen gibt der Krisen-Begriff bereits selbst Auskunft über den Zustand der Gesellschaft und seine Funktion. »Krisis« (krisiV) wurde zunächst verwendet im Sinne einer Beurteilung oder Entscheidung, zwischen wahren und falschen Aussagen, zwischen der richtigen und der falschen Entscheidung. Deshalb teilt sich auch die »Kritik« mit der »Krise« diese griechische Wurzel. Über die Jahrhunderte verschob sich die Wortbedeutung, bis heute mit der Krise der Tiefpunkt in einer Entwicklung gemeint ist, der entscheidende Moment in einer zugespitzten Lage. Kurz: Es geht um Wendepunkte, deren Aufziehen erwartet wird.

Um ein Verständnis von der Krisengesellschaft zu erhalten, ist ein weiterer Aspekt von besonderer Bedeutung: Krisen sind weniger durch objektive Entwicklungen bestimmt als durch die subjektive Bedeutung, die ihr die Individuen zugestehen. Schon Anfang der 1970er Jahre wies der Frankfurter Sozialphilosoph Jürgen Habermas auf diese Eigentümlichkeit von Krisen hin: »Erst wenn die Gesellschaftsmitglieder Strukturwandlungen als bestandskritisch erfahren und ihre soziale Identität bedroht fühlen, können wir von Krise sprechen.« Das soll heißen: Was als Wendepunkt erlebt wird, dass hängt nicht nur von außen hereinbrechenden Ereignissen ab, manchmal sogar von diesen zuletzt. Ohne die Bewertung einer Entwicklung als Entscheidungsmoment gibt es keine Krise. In manche Katastrophe schlidderte die Menschheit sehenden Auges, ohne vorher schlaflose Nächte gehabt zu haben oder überhaupt beunruhigt gewesen zu sein. Andere wiederum wurden in ihrer Dimension maßlos überzeichnet.

Wenn es darauf ankommt, wie bedroht man sich fühlt – folgen wir hier Habermas’ Formulierung –, dann bestimmt der Blick des Betrachters die Größe der Gefahr. Und erst diese Wahrnehmung macht eine drohende Katastrophe zur Krise. Und so kommt die Ahnung auf, dass in der Krisenwahrnehmung genauso stark der Wunsch mitschwingt, es möge mit diesem Tiefpunkt das Ende eines Zustands erreicht sein, wie die Sorge, der Gang der Dinge könnte unberührt weitergehen.

Wenn es darüber hinaus nicht nur um eine Krise geht, die eine Gesellschaft bewegt, sondern die Menschen beständig von neuen Entwicklungen in den Bann gezogen werden, deren Wahrnehmung aber ohne Folgen bleibt, dann wird die Frage drängend, was die Gründe für eine derartige Krisenverhaftetheit sind. So macht dieses Muster der Krisenwahrnehmung die darunterliegende Logik der Verleugnung unabweisbar. Ihre psychische Logik verbindet sich eng mit der ökonomischen: Bis heute lösen die neoliberale Wirtschaftspolitik und ihre Folgen – fehlende Investitionen in Bildung, Schulen, Pflege und Gesundheit, Infrastruktur des öffentlichen Personenverkehrs – bei weitem weniger politischen Protest aus, als die Krisenrhetorik an Aufmerksamkeit erhält. Stattdessen ist die Gesellschaft geprägt von einer Polarisierungsbereitschaft entlang wechselnder Themen und von Ressentiments gegen jedwede Gruppe, die als Minorität oder abweichend erscheint.

Unbewusste Wünsche

Menschen handeln aus Gründen. Akademischer würde man auch sagen: Sie sind durch unterschiedliche Wünsche in ihrer Handlung und Wahrnehmung motiviert. Die Motivation mag einem unbeteiligten Betrachter rational nachvollziehbar sein oder ihm völlig abwegig erscheinen, dennoch liegt Beziehungen, Handlungen oder Erleben von Menschen immer eine Motivation zugrunde. Sigmund Freud hat den Menschen konsequent als ein wünschendes und fantasierendes Tier gedacht: Hinter dessen Handlungen steht immer ein Wunsch, der ebenso der Vater des Gedankens wie der Tat ist, und doch ist dem Handelnden das Gros seiner Wünsche unbewusst. Das gilt auch, wenn es nicht die Motivation eines Menschen ist, sondern die von vielen: Gruppen, soziale Milieus, politische Verbände, Nationen. Und so ist eine Motivation auch der Grund für die Aufmerksamkeit auf den nächsten Entscheidungsmoment, sie bestimmt, an welcher Stelle er sich zeigt und auf welche Entwicklung nicht geschaut wird.

Die Bereitschaft, auf Reizthemen beständig mit hoher Erregung zu reagieren, gewissermaßen wie der Pawlowsche Hund auf den dargebotenen Klingelton, kann man mühelos als das Kennzeichen der ersten zwei Dekaden des gerade eben angebrochenen 21. Jahrhunderts bezeichnen.

»Triggerpunkte« nannte das die Berliner Forschungsgruppe aus den Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser und fand damit ein treffsicher ausgewähltes Bild. Mau und seine Kollegen schlussfolgern zwar einerseits, dass die Gesellschaft bei weitem nicht so polarisiert sei, wie die öffentlichen Debatten vermuten lassen, bestätigen jedoch andererseits die beständige Polarisierungsbereitschaft. Und sie liefern noch eine andere interessante Beobachtung. Denn darüber hinaus weisen sie auf ein Phänomen hin, das mit jener Erregungsbereitschaft auf das Engste verbunden ist: die Bereitschaft zur Gruppenbildung und die Konjunktur widerstreitender kollektiver Identitäten.

So können wir mit dem Befund der »Triggerpunkte« etwas über die Bedeutung eines Phänomens der Gegenwart erfahren: Die immer wiederkehrenden Entscheidungsmomente führen keinesfalls zu ihrer gemeinsamen Bewältigung durch die gesamte Gesellschaft. Vielmehr kommt es – auch jenseits des konkreten Inhalts – zu Positionierungen »dafür oder dagegen«. Das ist im Übrigen genau die Polarisierung, von der die Autoren eigentlich sagen, sie existiere nicht. Wenn aber die eigene Ansicht derart unaufgefordert und unversöhnlich artikuliert wird, dann ist dies die permanente Suche nach Entscheidungsmomenten. Es ist die Suche nach lauter kleinen Krisen des Alltags, die im Kleinen der zwischenmenschlichen Beziehungen wiederholen, was auch im Großen gewünscht wird. So kommt schlagartig der Verdacht auf, dass die Entscheidungsmomente genauso wie die Gruppenidentitäten befürchtet und ersehnt sind.

Wenn dieser Verdacht stimmt, dann wiederholt die Gesellschaft seit Dekaden ein psychisches und soziales Muster. Man könnte auch sagen: Es ist ein Wiederholungszwang am Werk. Und das Muster ist nicht die Schutzsuche vor dem Schrecklichen, die Wahrnehmung der Gefahr, um ihr entgehen zu können, sondern die Schutzsuche beim Schrecklichen. Verräterisch ist deshalb, dass alternativ zur Krise die Rede häufig von der Apokalypse ist: Krisenpolitik und die Politik der Apokalypse liegen nah beieinander.

Das gilt nicht nur für die AfD als Profiteur einer »Migrationskrise«, die sie selbst mit herbeigeredet hat. Gerade weil der menschengemachte Klimawandel eine der größten Herausforderungen unserer Gegenwart ist, offenbart auch hier das Szenario eines »apokalyptische[n] Klimawandel-Endgames« einen Eindruck davon, dass es nicht nur um ihre Bewältigung geht. Mehr noch als der Krisenbegriff gibt die Apokalypse in ihrer wörtlichen Übersetzung etwas von dem Wunsch preis, welcher der Wortwahl zugrunde liegt: Sie ist die »Offenbarung«, der Moment, in dem sich das Rettende zeigen soll, und sie geht einher mit der Entscheidung zwischen Erwählten oder Verworfenen.

Nervoese Zeiten

So neu ist diese nervöse Krisenbereitschaft nicht. Schon zu Beginn des 20. Jahrhundert verdichteten sich die Beobachtungen, dass die Nerven der Zeitgenossen bis zum Zerreißen gespannt waren. Deshalb hießen psychisch Kranke – jenseits ihrer jeweiligen Erkrankung und deren Ursache – oft schlicht Nervöse oder Neurotiker. Sie litten an stressbedingter »Neurasthenie«, so ein prominentes Erklärungsmodell in der damaligen Zeit für dieses Leiden (Kury, 2012). Das kam nicht von ungefähr, sondern war am Ende des »langen 19. Jahrhunderts« dessen Niederschlag im Individuum. Zu Beginn stand die Französische Revolution, sie markiert das Überschreiten der Schwelle von der Neuzeit zur Moderne. Mit ihr begann eine Zeit »sich überstürzenden Ereignisse politischer Umwälzungen«, die seitdem die Erfahrung prägten. Der »Imperativ des Wandels« wurde paradoxerweise auf Dauer gestellt. Einen Eindruck von der Wirkung dieser permanenten Umwälzung geben bereits Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem Kommunistischen Manifest:

»Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.«

In der individuellen »Nervosität« zeigten sich die Folgen einer seit dem 19. Jahrhundert immer größere Fahrt aufnehmenden, dauerhaften Entgrenzung, einer sich »beständig selbst überholenden Moderne«. Das war nicht einmal nur eine Metapher, sondern wurde mit dem technischen Fortschritt wie der Eisenbahn Alltagserfahrung. Heinrich Heine beschreibt als Zeitgenosse die Wirkung: »Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.« Die Beschleunigung setzte sich im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Extreme, fort und hält bis heute an.

Waren die Beschleunigung und Entgrenzung für die Zeitgenossen von Heinrich Heine, Karl Marx und Sigmund Freud bereits eindrucksvoll und rüttelten an den Nerven, ist diese tiefste Wirkung auf die Menschen heute keinesfalls Vergangenheit. Die »moderne[n] Zeiten« halten bis heute an. Das massenweise Auftreten von Burnout, Aufmerksamkeitsstörungen und Depressionen kann man als Äquivalent zum Sammelbegriff der Neurose vom Anfang des 20. Jahrhunderts verstehen: Im Extrem der Erkrankung zeigt sich, wie groß die Belastung im Regelfall des Alltags ist und wie wenig die Menschen sich von der Überforderung abgrenzen können

Möglicherweise ist die nervenaufreibende Gewalt der Beschleunigung mit dem neuesten technischen Fortschritt der Digitalisierung und der bisher letzten ökonomischen Innovation des Neoliberalismus sogar noch intensiver geworden. Beide nahmen zum Ende der 1970er Jahre Fahrt auf und ihr Tempo nimmt weiter zu – nicht ohne Konsequenzen für das individuelle Nervenkostüm und das politische Geschehen. Die weit verbreiteten autoritären Einstellungen sind eine Folge dieser andauernden Entwicklung. Der Bielefelder Sozialpsychologe Wilhelm Heitmeyer stellt zwischen beidem einen engen Zusammenhang her:

»Die alternativlose Durchsetzung eines Flexibilisierungszwanges, der beispielsweise eingelebte soziale Lebensund sozialisatorische Entwicklungsrhythmen zerstört, gehört ebenso zum neuen Charakter eines autoritären Kapitalismus, wie gezielte Verletzungen menschlicher Integrität.«

Aber auch für diese autoritäre Dynamik gilt: Ein »Flexibilisierungszwang« könnte ohne die Bereitschaft, diese Flexibilität auch als eigenes zu begehren, nie eine solche Bannkraft entfalten. Ob die autoritäre Masse durch die gemeinsame Identifikation mit einem Führer, einer Ideologie oder einem abstrakten Objekt wie dem Kapitalismus konstituiert wird, ist an dieser Stelle zweitrangig. Das Merkmal des Autoritarismus bleibt, dass er von einem Wunsch getragen wird, so ambivalent dieser auch ist:

»Was man zum Beispiel ›Autorität‹ nennt, setzt in höherem Maße, als man anzuerkennen pflegt, eine Freiheit des der Autorität Unterworfenen voraus, sie ist selbst, wo sie diesen zu ›erdrücken‹ scheint, nicht auf einen Zwang und ein bloßes Sich-Fügen-Müssen gestellt.«

Ohne die Freiwilligkeit der Unterwerfung ist die dauerhafte Übernahme des Flexibilisierungsimperatives nicht zu haben. Und die freiwillige Unterwerfung erfolgt, weil mit ihr die Aussicht auf eine Wunscherfüllung verbunden ist.

Somit ist der »libertäre Typus« des Autoritären, den die Basler Forscherin Carolin Amlinger und ihr Kollege Oliver Nachtwey beschreiben, zwar nicht wirklich neu, beeindruckend ist allerdings, wie klar Amlinger und Nachtwey diese autoritäre Reaktion unabhängig von der politischen Selbstverortung ihrer Studienteilnehmer freilegen können. Und dass die reale Hilflosigkeit gegenüber der Übermacht der Gesellschaft gerade im Kontrast zu ihren Freiheitsversprechen die autoritäre Dynamik derzeit besonders befeuert, das ist hoch plausibel.

Denn auch heute gilt trotz aller gesellschaftlichen Liberalisierung von Lebensentwürfen die polemische Beobachtung, dass der Mensch »doppelt frei ist«: frei von der Möglichkeit, seine Lebensgrundlage selbst zu produzieren, und frei, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Der Mensch ist zum Verkauf seiner Arbeitskraft gezwungen, anders können die wenigsten ihr Überleben in dieser Gesellschaft absichern. Das autoritäre Ordnungsschema des flexibilisierten Kapitalismus hat weiterhin zwei Seiten, seine binäre Ordnung lautet »drinnen oder draußen«. Man könnte auch sagen: erwählt oder verworfen. Der Mensch ist die einzige Ware, die dieses binäre Ordnungsschema am eigenen Leib erfährt, und es ist bei weitem rigider als so manches, gegen das gegenwärtig mit Verve gekämpft wird).

Hellsichtig hatte schon Anfang der 1980er Jahre der britische Soziologe Stuart Hall auf die Notwendigkeit einer politisch-ökonomischen Aktualisierung des Autoritarismus-Konzepts hingewiesen. Er studierte die Reaktionen auf den »Thatcherismus« in Großbritannien und die »Reaganomics« in den USA. Die flächendeckende Privatisierung von öffentlichen Gütern, die Entgrenzung des Marktes durch weitestgehende Kommodifizierung und Freihandel, der Abbau des Wohlfahrtsstaats und die Zerschlagung der gewerkschaftlichen Organisationen wurden die Kennzeichen der erneuerten, bis heute bestehenden marktliberalen Ordnung. Hall stellte bereits in der Frühphase dieser neuen Ordnung fest, dass die Reaktion auf sie keinesfalls eine breite Solidarisierung ist, sondern ein »autoritärer Populismus«.

Die offenen Formen des »autoritären Populismus« sind heute in fast allen Ländern auf dem Vormarsch, ja, die gesamte Gesellschaft ist in Folge von einer autoritären Dynamik durchzogen, sie erfasst Menschen in allen sozialen Lagen und in allen politischen Lagern. Wenn heute die US-amerikanische Sozialphilosophin Wendy Brown Halls Befund aufgreift und erweitert, von einem Autoritarismus spricht, der »festive and even apocalyptic« sei, trifft sie ins Zentrum, genau genommen: in die Mitte der Gegenwartsgesellschaft. Der Autoritarismus hat eine Tendenz zu Entscheidungsmomenten. Die Krise ist nicht umsonst das Feld, welches extrem-rechte Parteien mit Erfolg bewirtschaften.@

von Oliver Decker,
Johannes Kiess,
Ayline Heller
und Elmar Brähler
aus: Vereint im Ressentiment
Vorwort der Leipziger Autoritarismus-Studie 2024; Psycosozial-Verlag

 

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