Gesundheitsschäden
durch Radioaktivität!

Neue Studienergebnisse bestätigen die Gefahren der Niedrigdosisstrahlung



Radioaktive Strahlen wie auch Röntgenstrahlen können als energiereiche, sogenannte „ionisierende“ Strahlung das Erbmaterial in einer Körperzelle verändern. Für die Verursachung eines solchen Schadens an der DNA (Mutation) gibt es keine Schwellendosis – es reicht ein einzelnes Strahlenquant, um Erkrankungen hervorzurufen.

Darauf hat bereits der US-amerikanische Genetiker und Nobelpreisträger Hermann Joseph Muller (1890 - 1967) hingewiesen. Er entdeckte, dass Röntgenbestrahlung bei Taufliegen zu Fehlbildungen bei den Nachkommen führt. Primär erzeugt die ionisierende Strahlung im Mikroskop sichtbare Veränderungen von Chromosomen, die als Träger des Erbmaterials in Zellen schon früh bekannt waren. Muller beschrieb die Entstehung von strahleninduziertem Krebs aus einer einzelnen mutierten Körper-(Soma-)Zelle, von der eine unkontrollierte Wucherung ausgehen kann. Er wies darauf hin, dass auch die natürliche Strahlung – in Deutschland beträgt diese durchschnittlich 2 - 3 Millisievert (mSv) pro Jahr – Mutationen und Krebserkrankungen auslösen kann, und warnte vor einer Anhäufung von künstlich erzeugter Radioaktivität in der Umwelt.

Mullers Erkenntnisse führten nach dem Zweiten Weltkrieg zur Einführung der sogenannten Linear-No-Threshold-Hypothese (LNT-Hypothese) durch die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP). Deren Empfehlungen bilden die Grundlage für die aktuelle Strahlenschutzgesetzgebung in Deutschland, Europa und vielen anderen Ländern. Die LNT-Hypothese beschreibt einen linearen Zusammenhang zwischen Strahlendosis und der Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung. Damit ist gemeint, dass bei Bestrahlung einer großen Personengruppe mit niedriger Dosis die Anzahl verursachter Schäden proportional zur Gesamtdosis ist (Summe aller Einzeldosen). Es bedeutet, dass jeweils bei halber Dosis noch der halbe Effekt zu erwarten ist – aber auch, dass es keine unschädliche Dosis bzw. Dosisschwelle (Threshold) geben kann.

Gegen die LNT-Hypothese wehren sich die Befürworter*innen der Atomenergie seit Langem. So bemüht sich auch das Strahlenkomitee der Vereinten Nationen (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation, UNSCEAR), auf deren Datenerhebungen sich die ICRP stützt, seit 2016 eine praktische Dosisschwelle von 100 mSv für Effekte durch ionisierende Strahlung zu etablieren. Das Komitee vertritt die Ansicht, dass bei Dosen unterhalb von 100 mSv ein signifikanter Anstieg für die meisten Tumorarten nicht erkennbar sei . Mit Blick auf das genetische Strahlenrisiko gehen UNSCEAR und ICRP noch weiter und vertreten die Annahme, dass es Fehlbildungen nach vorgeburtlicher Exposition (in utero) unterhalb einern Uterusdosis von 100 mSv nicht geben würde und beim Menschen kein Nachweis dafür vorliege, dass Kinder von bestrahlten Eltern einen Schaden davontrügen.

Die deutschen Fachinstanzen für den Strahlenschutz der Bevölkerung, das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) und die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK), Beraterin des Bundesumweltministeriums, haben sich jahrelang nicht klar vom Konzept von UNSCEAR und ICRP distanziert, trotz einer Fülle von Studien nach Umweltkontaminationen, aus dem Berufsmilieu und nach Röntgendiagnostik der letzten zwei Jahrzehnte. In einer 2023 veröffentlichten Stellungnahme „Vorschläge der SSK zur Weiterentwicklung von ICRP 103“ ist jetzt ein Umdenken zu erkennen. .

  • Neue Ergebnisse zum
    somatischen Strahlenrisiko

Als Referenz für das Risiko pro Dosiseinheit werden von der UNSCEAR vor allem die Befunde an den japanischen Atombombenüberlebenden herangezogen. Auch diese zeigen jedoch, dass es keine Schwellendosis gibt, unter der eine Erkrankung ausgeschlossen werden kann. Vielmehr weist das international hochangesehene Forschungsinstitut in Hiroshima sogar explizit darauf hin, dass Krebserkrankungen auch im Dosisbereich von 0 bis 100 mSv signifikant erhöht auftreten und nicht geringer sind, als es einem dosisproportionalen Risiko entsprechen würde.

Der Widerstand gegen die LNT-Hypothese hätte spätestens aufgegeben werden müssen, nachdem ab den 1990er Jahren international etliche epidemiologische Studien an Werktätigen aus der Nuklearindustrie vorgelegt wurden, die bereits bei mittleren Dosen im Kollektiv von 10 - 30 mSv deutliche Erhöhungen der Krebsmortalität zeigten. Dies führte zur Etablierung des Projektes International Nuclear Workers Study (INWORKS) bei der International Agency for Research on Cancer (IARC) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dabei schlossen sich Institutionen aus mehreren europäischen Ländern und den USA zusammen und bestätigen seit 2015 in Metastudien, dass ein real erhöhtes Krebsrisiko für Arbeitnehmer*innen auch dann besteht, wenn die gesetzlichen Dosisgrenzwerte eingehalten werden.

Die neueste Analyse von INWORKS aus dem Jahr 2023 befasst sich speziell mit dem Dosisbereich 0 bis 100 mSv [10]. Die Wissenschaftler*innen berichten, dass es keinerlei Hinweise auf eine Schwellendosis gibt, und sich im Gegenteil die Krebsrate pro Dosiseinheit im Niedrigdosisbereich erhöht.

In Deutschland veröffentlichte Prof. Dr. Michael Hauptmann von der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane 2020 zusammen mit 15 Kolleg*innen aus europäischen Ländern, Japan und den USA die Ergebnisse einer Metaanalyse von 26 epidemiologischen Studien aus dem Niedrigdosisbereich über Krebserkrankungen, die nach 2006 erschienen sind. Alle untersuchten Kollektive wiesen eine mittlere Dosis unterhalb von 100 mSv auf. Die Autor*innen kommen zu dem Schluss, dass die Untersuchungen reale Erhöhungen des Strahlenrisikos durch sehr niedrige Dosen belegen.

Hauptmann und 20 weitere Autor*innen untersuchten den Zusammenhang zwischen malignen – also bösartigen – Hirntumoren und CT-Untersuchungen des Kopfes bei Kindern und Jugendlichen anhand von Daten aus acht europäischen Ländern. Die 2023 publizierten Ergebnisse zeigen einen dosisproportionalen Zusammenhang und die Autor*innen bestätigen ausdrücklich die LNT- Hypothese. Hauptmann ist auch Mitautor der jüngst erschienenen Auswertung der EPI-CT-Daten, die sich mit Leukämie und anderen Blutkrebserkrankungen befasst.

Aus der Fachliteratur ist zudem seit Langem bekannt, dass auch nicht maligne Erkrankungen durch niedrige Dosen ionisierender Strahlung erzeugt werden können, dazu gehören gutartige Tumore in verschiedenen Organen und Geweben, Herz/Kreislaufleiden, Erkrankungen des Blutes, des Atemtrakts, der Harnwege, der Leber, des Magen/Darm-Trakts und der Augen sowie Schädigungen des Immunsystems und Entzündungsreaktionen.

Zur Frage strahleninduzierter Herz-Kreislauf-Erkrankungen berichtete 2023 der Medizinstatistiker Mark P. Little zusammen mit 15 internationalen Kolleg*innen über eine weitergehende Metaanalyse. Die Wissenschaftler*innen erfassten vier Krankheitsgruppen an Erkrankungen von Herz- oder Hirngefäßen sowie anderen Herz-Kreislauf-Erkrankungen aus 93 Artikeln der wissenschaftlichen Literatur. Die Expositionen waren durch medizinische Anwendungen, berufliche Exposition oder Umweltkontaminationen erfolgt.

Die Studie bestätigt die grundsätzliche Induzierbarkeit von tödlichen Herzinfarkten und Schlaganfällen durch ionisierende Strahlung. Bei niedriger Dosis sind die Ergebnisse weniger kompatibel. Jedoch nahmen die Effekte pro Dosiseinheit generell bei geringer werdender Dosisleistung, also bei chronischer Bestrahlung, zu.

Die Autor*innen kommen zu dem Schluss, dass das Strahlenrisiko bisher wahrscheinlich deutlich unterschätzt worden ist und fordern, dass der Strahlenschutz und die Bemühungen zur Dosissenkung überdacht werden sollten.

  • Neue Ergebnisse zum
    genetischen Strahlenrisiko

Die ablehnende Haltung gegenüber einem Strahlenrisiko für die Kinder bestrahlter Eltern durch die UNSCEAR und ICRP stützt sich auf Befunde von den japanischen Atombombenüberlebenden. Bei ihnen wird eine einmalige Exposition während der Explosion angenommen. Wissenschaftler*innen haben jedoch darauf hingewiesen, dass die unterschiedliche Empfindlichkeit der Keimzellen in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien beachtet werden muss. Die Stammzellen in den Gonaden sind bei beiden Geschlechtern relativ unempfindlich bezüglich der Ausbildung lebensfähiger Mutationen. Bis zur Entstehung der reifen Spermien bei Männern durchlaufen die Tochterzellen verschiedene Teilungsstadien bis sie durch die sogenannte Reifeteilung (Meiose) in solche mit halbem Chromosomensatz übergehen (haploid). Die Zeitdauer der Spermatogenese beträgt etwa 86 Tage.

Nach Erkenntnissen der Strahlenbiologie muss man Erbschäden besonders nach Exposition in einem Zeitraum kurz vor der Zeugung erwarten, bei den Atombombenüberlebenden also bei Konzeptionen kurz nach der Explosion. Die systematische Untersuchung der gesundheitlichen Folgen in Hiroshima begann aber erst fünf Jahre nach den Explosionen. Außerdem waren die Überlebenden in Japan eine sozial geächtete Population und es ist anzunehmen, dass betroffene Eltern Schädigungen bei ihren Kindern verschwiegen haben, so dass das wahre Ausmaß in den späteren Studien unterschätzt wurde.

Die unterschiedliche Strahlenempfindlichkeit der Spermien wird durch Arbeiten einer deutschen Forschungsgruppe bestätigt. Prof. Dr. Björn Schumacher vom Institut für Genomstabilität in Alterung und Erkrankung der Universität zu Köln leitet das Projekt, das von der Deutschen Krebshilfe gefördert wurde. Für die Autor*innen besteht kein Zweifel, dass es genetisch generierte Strahlenschäden beim Menschen gibt. Nach ihren Angaben entstehen etwa 80% der aus der Elterngeneration übertragenen Mutationen in der männlichen Keimbahn. Die Arbeit diente der Aufklärung der zu Grunde liegenden Prozesse. Ihre Experimente führten sie zunächst an einem Fadenwurm als Modellsystem aus und konnten sie später an menschlichen Zellen bestätigen.

Sie fanden heraus, dass die reifen Spermien besonders strahlenempfindlich sind, weil aufgrund ihrer spezifischen Struktur Reparatursysteme ausfallen. Sie fordern den Schutz vor mutagenen Expositionen besonders in den zwei Monaten vor Konzeption (Empfängnis). Ihre weiteren Forschungen sollen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert werden. Die Forderung der Kölner Forscher*innen entspricht der in den BUND-Stellungnahmen zum genetischen Strahlenrisiko vorgetragenen Notwendigkeit der Beachtung der unterschiedlichen Strahlenempfindlichkeit der Keimzellen während der Spermatogenese. Ein anderer Entstehungsmechanismus liegt beim Down-Syndrom vor, das ebenfalls durch ionisierende Strahlung – vornehmlich bei der Mutter – erzeugt werden kann. Dies hatte sich insbesondere nach Tschernobyl gezeigt. Darüber berichten Sperling, Scherb und Neitzel 2023 und fordern ein Monitoring.

Schlussfolgerungen

Die LNT-Hypothese ist keine äußerst vorsichtig und konservativ angenommene Schutzannahme für den Umgang mit ionisierender Strahlung, sondern sie ist biologisch und biophysikalisch begründet und wird in großen epidemiologischen Studien überzeugend belegt. Darüber hinaus wird aus der Studie INWORKS aus dem Jahr 2023 sogar im niedrigen Strahlenbereich eine Erhöhung der Krebsrate abgeschätzt, die größer ist als die Schätzungen, die derzeit für den Strahlenschutz herangezogen werden. Zudem deuten einige Hinweise auf eine steilere Steigung der Dosis-Wirkungs-Beziehung im niedrigen Dosisbereich als im gesamten Dosisbereich hin. Diese Ergebnisse können dazu beitragen, den Strahlenschutz zu verstärken, insbesondere bei niedrigen Dosen. Die oben dargestellten Ergebnisse zeigen ferner, dass nicht nur Krebserkrankungen als die entscheidende Strahlengefahr bei niedrigen Dosen gelten dürfen, sondern auch ein Spektrum an weiteren somatischen Erkrankungen sowie die mögliche Schädigung der Nachkommen.

Diese Erkenntnisse müssen die Grundlage für den Strahlenschutz sein, denn in den kommenden Jahrzehnten werden die Arbeiten am Rückbau der Atomanlagen mit Freigabe großer Mengen kontaminierten Materials, die Lagerung und Konditionierung großer Mengen radioaktiver Stoffe und die langfristige Existenz von Zwischenlagern für Behälter mit abgebrannten Brennelementen und hochradioaktiven Abfällen die Bevölkerung weiter belasten.

Der BUND fordert erneut die Berücksichtigung des aktuellen Standes der Wissenschaft zum Strahlenrisiko im Niedrigdosisbereich und damit die Korrektur von überholten, fehlerhaften und unzutreffenden Annahmen im offiziellen Strahlenschutz. Dies muss insbesondere auch bei den Langzeitsicherheitsnachweisen für die zukünftigen Endlager gelten.@

  • Autor*innen

BUND Atom- und Strahlenkommission,verfasst durch
Inge Schmitz-Feuerhake,
Wolfgang Hoffmann,
Oda Becker
und Christina Hacker

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