Nach der Bombe
Über Uwe Loeschs Plakat "Little boy “ -

Eine kulturhistorische Einordnung von Dr. Stefan Soltek

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Jahr für Jahr erinnern am 6. August anti-Atom-Initiativen auf der ganzen Welt an die Zerstörung der Stadt Hiroshima durch eine Atombombe. Immer wieder neu zu überlegende Formen des Gedenkens sorgen dafür, die Erinnerung lebendig zu erhalten und vor dem Erstarren in Ritualen zu bewahren.

Ein Artikel in dem Buch „Nukleare Narrationen“ hat uns auf einen sehr besonderen Beitrag zu dieser Art von Erinnerungskultur aufmerksam gemacht: mit dem nebenstehend abgebildeten Plakat mischte sich vor knapp 30 Jahren ein Grafiker in die Diskussion ein.

Als Kulturhistoriker – ausdrücklich nicht als Aktivist sozialer Bewegung – setzt sich der Autor Dr. Stefan Soltek mit dessen Arbeit auseinander; sehr genau schaut er hin und findet beschreibende Worte für Zusammenhänge, die uns – den ikonografisch Ungeübten – vermutlich entgangen wären. Wir empfehlen, sich den gesamten Artikel mit all seinen Anmerkungen im Buch anzuschauen. Hier betreiben wir – unter Missachtung wissenschaftlicher Standards – Rosinenpickerei und wählen einzelne Passagen aus.


Nach der Bombe

"Little boy „ - ist der Titel eines vielfach publizierten, international ausgestellten und prämierten Plakats des renommierten Gestalters Uwe Loesch. Es betrifft den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima, bezeichnet mit dem Codewort „Little Boy“. Der Schriftzug dieses Namens liest sich quer über dem Brustbild eines Jungen. Nackt, schwarz-weiß, im beträchtlichen Format 168 x 119 cm und somit überlebensgroß, wirkt er so angedeutet wie vollauf präsent.

Polarisiert halten sich Nähe und Abstand, des Jungen, des Schriftzugs, der Vernichtung und des Lebendigen in Schwebe. Rückt so das schier nicht Darstellbare der Katastrophe in die Nähe eines Ermessens, eines Augenblicks der Besinnung? Ermöglicht das Aussparen verbrauchter Zeichen: des Atompilzes, der verbrannten Kuppel ... und umgekehrt der Rückzug auf das Wenigste: namentlich den kleinen Jungen, eine Annäherung an das Maßlose?

  • Eine Kindheitserinnerung.
    Hiroshima,am 6. August 1945

Aus: Till Mayer, Im Trümmerfeld des Lebens –
Bericht aus Hiroshima,veröffentlicht im Spiegel am 3. August 2010

„Sadae Kasaoka war 13 Jahre alt, als am 6. August 1945 die Atombombe über Hiroshima explodierte. [...] Menschen verglühten innerhalb weniger Minuten, viele weitere starben in den Tagen danach. Auch Sadaes Eltern. Sie selbst überlebte ­ in einer Gesellschaft, in der Überleben als Makel gilt. Sadae Kasaokas Ort des Erinnems ist unscheinbar. Nicht so beeindruckend wie die ,Atombombenkuppel‘ im Herzen der Stadt, deren Stahlträger Ehrfurcht lehren. Nicht so ergreifend wie der mit Gras bewachsene Hügel im ,Peace Memorial Park‘, der die Asche von 70.000 Menschen in sich birgt. Kasaokas ganz privater Ort des Erinnems ist ein Flussabschnitt mit hohen Dämmen links und rechts [...]. Dabei kann Sadae Kasaoka nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass dies der richtige Ort zum Erinnern ist. Verloren steht sie auf dem Damm, sucht nach einem Zeichen aus der Vergangenheit. Sie kann keines mehr entdecken.“

Der Junge auf dem Plakat ist ähnlich alt wie Sadae im Moment der Zerstörung ihrer Stadt. Sein Ort des Erscheinens auf der Fläche des Plakats ist ebenfalls unspezifisch, ebenso ein auf seine Weise „richtiger Ort zum Erinnern“ für den Betrachter.

Der Bericht fährt fort und spricht von dem „Feuer, das nicht aufhörte zu brennen, bevor das ganze Stadtzentrum eingeäschert war. 70.000 von 76.000 Gebäuden wurden zerstört oder beschädigt. Vermutlich 70.000 bis 90.000 Menschen starben unmittelbar, als die Bombe in 580 Metern Höhe über einem Krankenhaus zündete [...]. Bis Jahresende 1945 stieg die Zahl der Bombenopfer auf schätzungsweise 140.000 Frauen, Kinder und Märmer. Das Siechen hatte noch lange nicht aufgehört. Bis heute sterben die hibakusha, wie sie die Atombomben-Überlebenden in Japan nennen, an Krebserkrankungen, die auf die Strahlenkontamination zurückzuführen sind. Im Register der Atombombenopfer stehen 263.945 Namen.

Frau Kasaoka denkt beim Atombombenabwurf weniger an Zahlen, als an Gesichter vertrauter Menschen, die ihr plötzlich fremd waren. ,Hätte ich nicht seine Stimme gehört, ich hätte meinen eigenen Vater nicht erkannt. Sein Gesicht war geschwollen, seine Kleidung verbrannt, sein Körper schwarz und glänzend‘, erinnert sich die alte Dame.“

  • Little Boy
    – die Bombe

Der Abwurf der Atombombe „Little Boy“ arn 6. August 1945 auf Hiroshirna, drei Tage später auf Nagasaki (genannt „Fat Man“) durch die U.S. Air Force ist der erste und bis heute einzige Einsatz von Atomwaffen im Krieg. Transportiert und abgeworfen wurde die Bombe von Bomberpilot Paul Tibbets und seiner elfköpfigen Crew. Das Flugzeug, eine für den Einsatz umgebaute B-29, hatte Tibbets nach seiner Mutter benannt: Enola Gay.

Namensgeber der drei damals konstruierten Atom­bomben war der Physiker Robert Serber, rechte Hand Robert Oppenheirners im sogenannten Manhattan-Projekt (ab 1942) zur Entwicklung der Atombombentechnologie. Anhalt für die Namen boten Serber die Novellen von Dashiell Hammett beziehungsweise deren Verfilmung. Als „gunsel“ und „boy“ apostrophiert Humphrey Bogart (Sam Spade) den kleinen Ganoven Wilmer (gespielt von Elisha Cook, Jr.), einen Gehilfen von Kasper Gutman. Doch ob „Little boy“ wirklich davon abgeleitet wurde oder schlicht als weiterer Bomben-Typ gemeint war, scheint unklar.

Die Bombe, Todbringer für unabsehbar viele Bewohner einer Großstadt, wird ­ mehr oder weniger wahrscheinlich benannt nach einem kleinen Ganoven, einem Mitläufer, für Handlangerdienste eben gut. Doch allein darum geht es nicht: Wenn die Bombe als ,.Kleiner Junge“ Menschen vernichtet, wie sehr degradiert sie in Verbindung mit ihrer Namensgebung Grundfeste des Humanen, das doch im Kindsein die Quintessenz menschlicher Lebensperspektive ermisst. Diese Kapital-Absage der Bombe mit Namen „Little Boy“ an das Leben erscheint – zumal beiläufig so genannt durch den Charakter eines Kosenamens – als ein Brennspiegel unsäglicher Massentötung.

Schlussendlich setzt sich das Plakat vom konkreten Anlass ab und wirkt als visuelles Zeichen gegen die Gefährlichkeit eines Sprachgebrauchs, der – heute möglicherweise als postfaktisch bezeichnet – tatsächlich zur elementaren Lebensbedrohung wird.

Das Plakat

Die französische Friedensbewegung ,.Mouvement de la Paix“ hatte Uwe Loesch und weitere 99 international bekannte Plakatgestalter in 18 Ländern aufgefordert, zum 50. Jahrestag der totalen Zerstörung Hiroshimas ein Plakat zu entwerfen. 92 beteiligten sich am Ende. Die Originalentwürfe wurden 1995 erstmals in Paris in der Galerie l‘Art et Ia Paix unter dem Titel „HIROSHIMA 1945-1995, UNE IMAGE POUR LA PAIX“ ausgestellt.‘

Offenkundig ergab sich für alle, die den Auftrag annahmen, die Schwierigkeit, der Dimension massenhafter Vernichtung durch einen Atomschlag grafisch gerecht zu werden. Sicher sind die kulturellen Milieus dabei jeweils anders, die Einschätzungen angemessenen Ausdrucks von der jeweiligen Umgebung der Gestalter mit bedingt. Dies zeigen eindrucksvoll die vielen Plakate der Aktion ,.Hiroshima Appeals“, die von 1983 bis 1990 von der Japan Graphic Designers Association lnc. und der Hiroshima International Cultural Foundation Inc. veranstaltet wurden.

  • Der Junge.
    Das Kind

Loesch nimmt die Bombe beim Wort, nicht beim Bild; und verstößt dabei - scheinbar - gegen das ungeschriebene Gesetz der Gestaltung von Bild und Wort, durch ein Unisono von Gezeigtem und Gesagtem Redundanz zu vermeiden. Loesch führt aus: „Die zynische Bezeichnung der Bombe mit dem Codeword ,little boy‘ wird wörtlich genommen, der ,kleine Junge‘1:1 im Format 119 x 168 cm abgebildet.“ Die Halbfigur des unbekleideten Jungen - eines Koreaners - macht das im Bezug zum Anlass Unsägliche der Wortwahl zum Bildreflex, die unerträgliche Verharmlosung zu einem unübersehbaren, augenblicklichen Einspruch. Von den abgestreckten Armen flankiert, trägt der schmächtige Körper den Kopf mit seinem unmerklichen, aber wirksamen Haarschopf. Wie eine Antigloriole rahmt er das Gesicht mit den großen schwarzen Augen. Der Betrachter begegnet dem Blick eines Jungen, noch Kind, noch nicht Erwachsener. In dem Aussehen, das das Foto dem Jungen verleiht, da es sein Vor-Sich-Hin-, sein Hinaus-Sehen transferiert, liegt eine dem Wesen des Kindes immanente Grundgegebenheit, ungefiltert von Erlebtem, die Gefahr und Endlichkeit des Daseins spürbar, aber auch erträglich zu machen.

  • Das Brustbild.
    Das Antlitz

Dank des vom Fotografen Frank Göldner eingesetzten Infrarot-Films und seiner Ausleuchtung strahlt die Haut des abgebildeten Jungen in unwirklich hellem Weiß, das Schwarz der Augen und Haare lodert entsprechend intensiv. „Das Foto entstand in meinem Düsseldorfer Studio in Zusammenarbeit mit Frank Göldner. Er war seinerzeit mein Student und hatte gerade in einem meiner Projektkurse an der Bergischen Universität Wuppertal mit Infrarot-Film experimentiert. Aufnahmen von nackten Körpern mit Infrarot-Film führen zu einer eigenartig durchscheinenden, beinahe zombiehaften Anmutung (tote Augen, Brustwarzen verschwinden). Um dem kleinen Jungen einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck zu verleihen, hatten wir ihn gebeten, während der Aufnahme die Luft anzuhalten. Er sollte weder traurig betrübt oder gar leidend erscheinen.“

Vom ersten Hinschauen an fällt die Absicht des Plakats auf, die Zuschreibung des Dargestellten ambivalent zu halten. Lebensgroß, frontal angeschaut, scheint alles dafür getan, die Spezifika dieses bestimmten Jungen zu avisieren. Und doch ist es seine - abseits der Merkmale des Fotorealismus eines Chuck Close - unmittelbar evidente Stilisierung, die eine geradezu ikonische Verallgemeinerung bedeutet. So gerät das Antlitz des Dargestellten zum Gesicht einer allgemeinen Feststellung, ist - dem Thema des Plakats geschuldet - weniger das Individuum gemeint als ein pars pro toto der vom Atomtod Betroffenen. Die Nacktheit des Jungen, im Zusammenspiel mit seiner Anmut und der symmetrischen, gleichsam hyperindividuellen Darbietung so unmittelbar schön wie unnatürlich, ist Ausdruck sowohl von Unversehrtheit wie von Beeinträchtigung, zugleich indes maximale Versinnbildlichung des Wortes „strahlen“, das das Atomzeitalter mit bitterer Zusatzbedeutung aufgeladen hat.

  • Der Schriftzug

War bisher vom Bild des Jungen die Rede, gilt es die zentrale Komponente des Schriftzugs mit zu erwägen. Ähnlich, wie bald danach für seine Serie „Dresden“ (1995), misst Loesch dem Namenszug spezielle Bedeutung zu. Im Hiroshima-Plakat setzt er den Namenszug „Little boy“ quer über das Portrait des Jungen mit nacktem Oberkörper. Dem Abbilden des Jungen fügt sich seine wortschriftliche Annonce hinzu. Die Doppelung der Aussage setzt auf die stupende Verstärkung, die zudem Redundanz und damit Unwirklichkeit evoziert.

Die Wirkweise des Schriftzugs „Little boy“ rührt von seiner scheinbaren Beiläufigkeit her. Baseline statt Headline (wie Loesch es bezeichnet) - also weniger BeHauptung als Brustton, dem es auf Unterschwelligkeit mehr als auf Dominanz der Überzeugung ankommt. Nicht Inschrift (natürlich denkt man an die INRI-Inschrift, aber auch an die Codifizierung von Sträflingen) und nicht Tattoo, beharrt der Schriftzug des Plakats auf seiner Sonderstellung und spezifischen Unterschwelligkeit.

Je normaler die Worte - zumal dem ersten Blick - vorkommen, desto stärker entfaltet sich das Verhältnis zur Bildsprache des gleichsam „normal“ dreinblickenden Jungen. Es geht um keine typografisch-bildliche Verschmelzung von Lettern oder Wort-Bildungen, sondern um eine dezidierte Hintertreibung der Funktion des Eindeutigen, die das Etikett namentlich vornimmt - auch, weil sich gegenüber dem großen Brustbild der Schriftzug dank seiner Kleinheit zum umso treffenderen Signum seiner Aussage macht. „Little boy “ - ein typografischer Gedanke vor dem Strich.

  • Bild ./. Schriftzug

Der Schriftzug unterstreicht, um den leicht abgesetzten Gedankenstrich ergänzt, die Fassungslosigkeit ob der Namenswahl der Bombe. Wie ein Zeichen der Verzögerung agiert der Querstrich, meint das Zögern, das jeder Annäherung an das Geschehnis innewohnt. Die typografische Detaillierung ist also weit mehr als Formgebung. Anführungsstriche und Gedankenstrich sowie die minimal gesperrt scheinende Groteske setzen eine Differenzierung zwischen dem Namen und dem Namenszug in Gang. Dieser löst sich ab, von der Wörtlichkeit „Kleiner Junge“, von dem Bild des kleinen Jungen, von dem Namen der Bombe und ruft ein Dasein auf, das sich im Grundsätzlichsten zur fragezeichenlosen Infragestellung dessen wandelt, was mit kleiner Junge gedanklich und gefühlshalber verbindbar sein könnte.

Die Verbindung mit der Figur des Dargestellten, ihre Position und Einleuchtung ins „lrgendwo und Überallhin“, formen sich zu einer sinnlich-sinnsuchenden Pro-Vision (statt Provokation) schlechthin. Alles ist - wie selbstverständlich - daraufhin arrangiert, die Entgleisung der Namensgebung der Bombe als Symbol für deren Unfassbarkeit zu verzeichnen: Der Junge, der bloß vor uns steht, einfach so vor sich und für sich hinschaut, hell aufscheint und doch zutiefst schwarz vergeht, ist bezeichnet mit dem, was er von seiner Unberührtheit hergeben musste an die kapitale Tötungsmaschine.

So sichtbar rührend der Junge - Loesch lässt mit seiner Bildidee und ihrer Verdichtung kaum den Hauch einer Hoffnung, vielmehr zieht er auf das Folgenreichste die Register des Sublimen, um von jeder Beschönigung abzusehen. Das Plakat zeigt nicht die Gestorbenen, es bannt den Jungen, der für jene Jungen steht, die von der Bombe und – verbal – von ihrer Verewigung im Namen der Bombe getötet wurden, ebenso für die, die auch in Zukunft tödlich betroffen sind; solange atomare Strahlung weiter besteht und Leben auslöscht. Und doch: Es liegt in der Fotografie des Jungen, in der Art seiner Inszenierung durch Designer und Fotograf und sein „Spiel‘‘ mit ihnen jenes Moment von Souveränität, das geradezu archetypisch dem Kind innewohnt.

Es sei dahin gestellt, ob wir erklären können, wie die Atombombe zu ihrem Namen kam: Ob es ein Akt der Unterdrückung von im Voraus gespürter Scham war, eine verbale - das Wesen des Kosenamens pervertierende - Entgleisung, getragen von infantiler Verniedlichung ungeahnter Tragweite. Oder ob es blanker Zynismus und schiere Unbekümmertheit waren.

Loeschs Plakat bannt die sinnwidrige Verwahrlosung von Denken und Sprechen, die die In-Eins-Setzung des fotografierten und des begrifflich in Schriftform aufgeführten Jungen offenlegt. Sein Anspruch auf Leben und Würde ist im Plakat auf das Deutlichste annonciert und referiert sogleich ihre frappante Auslöschung durch Namensgebung und Einsatz der Bombe. Ohne die Bombe und ihre Vernichtung zu zeigen, führt sie das Plakat umso dringlicher vor Augen. Der kleine Junge als Lebewesen lebensgroß ins Bild gesetzt - unterscheidet sich allein durch die gedankliche Verbindung, die seine Doppelpräsenz an den historischen Vorgang auslöst, von der latenten Unbestimmtheit jener Groß-Portraits, die Fotografen der Becher-Schule nahezu zeitgleich etablierten. Der kleine Junge, der so groß und still da steht, bringt all das Unsägliche mit, was umso unsagbarer bleibt, als er es beredt in den Blick rückt. (...) @

 

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