Einsatz an der Akzeptanzfront
„Erst Verständnis für nukleare Abschreckung schärfen“
Lydia Wachs, ex- Stiftung Wissenschaft und Politik SWP
im Interview mit Eckard Aretz, Tagesschau
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Als Beispiel für Elemente Strategischer Kommunikation dokumentieren wir hier einen Beitrag der ard-Tagesschau vom 7. Januar 2024. Eine junge Politikwissenschaftlerin, die nach erfolgreich abgeschlossenem Studium für zwei Jahre beim thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik gearbeitet hat, wird dem Publikum unhinterfragt als „Nuklearexpertin“ vorgestellt.
Als wäre es möglich, Hiroshima und Nagasaki einfach auszublenden, beharrt der Journalist im Interview auf der Fragestellung, wie sich die Eskalationsspirale der atomaren Rüstung weiter drehen ließe.
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Einsatz an der Akzeptanzfront
Was geschähe, wenn Donald Trump nach einem Wahlsieg Europa den atomaren Schutz entzöge? Die Nuklearexpertin Lydia Wachs hält wenig von Szenarien, die um den Aufbau einer europäischen Atommacht kreisen. Sie mahnt eine andere Debatte an.
tagesschau.de: Angesichts eines möglichen Wahlsieges von Donald Trump Ende des Jahres nimmt in Europa die Diskussion zu, ob unter einem Präsidenten Trump die nukleare Sicherheitsgarantie der USA für die NATO-Staaten noch Bestand haben oder abgeschwächt werden - und wie darauf zu reagieren wäre. Muss Europa stärker über die Ausweitung seiner eigenen atomaren Kapazitäten nachdenken?
Lydia Wachs: Ich halte es auf jeden Fall für richtig, dass wir eine Debatte über nukleare Abschreckung in Europa führen. Wir haben uns lange mit diesem Thema nicht auseinandergesetzt, und das sollten wir in Deutschland und in Europa tun.
Ob Trump wiedergewählt wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand voraussagen. Und wenn es so käme, wäre die Frage, ob eine Trump-Regierung tatsächlich die nuklearen Sicherheitsgarantien komplett aufgibt. Ich glaube nicht, dass das der erste Schritt wäre. Es würde aus meiner Sicht einer Trump-Regierung wahrscheinlich erst einmal darum gehen, die Europäer dazu zu bewegen, mehr in die konventionellen Streitkräfte zu investieren. Voraussetzung für eine Aufgabe der nuklearen Sicherheitsgarantien für Europa wäre, dass sich die USA vollständig aus Europa als Ordnungsmacht zurückziehen wollen.
tagesschau.de: Andererseits hat er damit auch schon öffentlich kokettiert. Aber unabhängig davon, ob man das für bare Münze nimmt oder nicht - was kann Europa tun, um sich unabhängiger von der US-amerikanischen Sicherheitsgarantie zu machen?
Wachs: In der aktuellen Debatte wird in Deutschland über sehr weitreichende Maßnahmen gesprochen wie die Entwicklung eigener Nuklearwaffen. Die massiven Konsequenzen dieser Optionen und ihre Implikationen im Kleinen werden aber nicht diskutiert, vielleicht auch übersehen. Sinnvoll wäre es, erst einmal das Verständnis für nukleare Abschreckung in Deutschland und auch in Europa zu schärfen - im politischen Berlin, grundsätzlich in der Gesellschaft und im Gespräch mit europäischen Partnern. Gespräche mit Frankreich zum Beispiel über eine stärkere Zusammenarbeit in Nuklearfragen haben nie wirklich stattgefunden oder sind nirgendwo hingegangen. Das wäre der erste Schritt, bevor man Szenarien wie eigene Atomwaffen aufbaut.
tagesschau.de: Wäre denn Frankreich überhaupt bereit, eine stärkere Rolle in der Abschreckung in einem europäischen Kontext, sei es nun innerhalb der NATO oder in einem EU-Zusammenhang, zu spielen?
Wachs: Hier kommt es darauf an, über welche Zeitlinien wir sprechen. Heute hat Frankreich kein ernsthaftes Interesse, eine größere Rolle zu spielen. Präsident Emmanuel Macron hat zwar 2020 unterstrichen, dass das französische Nukleararsenal auch eine europäische Dimension hat und hat darüber einen Dialog vorgeschlagen. Allerdings sollte das eher allgemein über nukleare Abschreckung gehen und war nicht als Angebot gemeint, anstelle der USA einen Nuklearschirm über Europa zu spannen.
Frankreich ist ja wegen Souveränitätsbedenken nach wie vor auch nicht Teil der nuklearen Kommandostruktur der NATO und hält sich da weiter deutlich zurück. Vielmehr sollte wohl bezweckt werden, dass sich andere europäische Partner mehr mit dem Thema nukleare Abschreckung beschäftigen, was Deutschland zumindest bis zum Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sehr ungern getan hat.
tagesschau.de: Ich würde dennoch gerne bei dem Szenario bleiben, was geschieht, wenn sich die USA als Ordnungsmacht aus Europa zurückziehen. Was würde das bei den europäischen Atommächten Frankreich und Großbritannien und ihren Partnern auslösen?
Wachs: Dann ist der Kontext natürlich ein anderer, aber auch dann ist es nicht das realistischste Szenario, dass Frankreich oder vielleicht auch Großbritannien zu etwas Größerem bereit wären - etwa von den USA die erweiterte Abschreckung zu übernehmen. Und dann ist auch noch die Frage, ob die anderen europäischen Staaten, insbesondere die zentral- und osteuropäischen Partner, mitziehen würden.
Wir sprechen hier über unterschiedliche Szenarien. Es könnte sein, dass jeder Staat dann plötzlich seine eigene Strategie wählt und zum Beispiel Deutschland eigene Nuklearwaffen entwickelt. Es könnte auch sein, dass Europa sich zusammenrauft und eine eigene Nuklearstreitmacht aufbaut. Aber das würde einen massiven Integrationsschritt voraussetzen - wir sprächen dann von den Vereinigten Staaten von Europa. Und all diese - noch sehr fernen - Optionen wären nicht nur finanziell extrem kostspielig, sondern vor allen Dingen auch politisch mit massiven Konsequenzen verbunden.
tagesschau.de: Dennoch wird die Forderung, dass Europa oder sogar Deutschland eigene Atomstreitmacht entwickeln sollte, immer wieder erhoben, zuletzt auch aus den Reihen der Grünen.
Wachs: Die Debatte wird immer wieder geführt, aber natürlich löst die mögliche Wiederwahl von Trump Sorgen aus. Was in dieser Debatte aber wenig Beachtung findet, ist die Frage, was die europäischen Staaten dann im konventionellen Bereich leisten müssen. Denn die USA garantieren momentan nicht nur die nukleare Abschreckung, sondern vor allen Dingen auch eine konventionelle Verteidigung und Abschreckung. Ohne einen Ausbau der konventionellen Möglichkeiten würde dann auch eine nukleare Abschreckung wenig bringen. Und das fällt in der Debatte weitgehend unter den Tisch.
tagesschau.de: Hätte denn Frankreich überhaupt die Fähigkeiten, die USA zu ersetzen?
Wachs: Frankreich hat völlig andere Fähigkeiten als die USA. Frankreich hat nicht nur ein wesentlich kleineres Arsenal an Atomwaffen, sondern darin auch keine echte Abstufung, also keine „kleineren“ taktischen Nuklearwaffen. Das bedeutet: Es könnte Russland nur androhen, im Falle eines konventionellen Angriffs russische Städte mit Interkontinentalraketen anzugreifen, und das ist extrem unglaubwürdig - sowohl innerhalb der Allianz als auch gegenüber Russland. Frankreich müsste also sein Arsenal massiv ausbauen. Und das wäre in jedem Fall mit enormen Kosten verbunden, auch für die Verbündeten, und es würde erhebliche Zeit beanspruchen. Und selbst dann würde die Glaubwürdigkeit eines solchen französischen Schutzschirms immer noch vom Interessengefüge in Paris abhängen.
tagesschau.de: Warum wäre das unglaubwürdig?
Wachs: Erweiterte Abschreckung muss glaubwürdig gemacht werden. Da spielen zwei Faktoren eine Rolle. Es geht, nicht nur wie gerade angesprochen, um die militärischen Fähigkeiten, um die Strategie des garantierenden Staates. Es geht auch um dessen politischen Willen, Verbündete zu schützen und dadurch im Extremfall die eigene Sicherheit zu riskieren. Die Glaubwürdigkeit der USA in Sachen erweiterter nuklearer Abschreckung beruhte neben den nuklearen Fähigkeiten immer auch darauf, dass Europa eine sehr wichtige Rolle in ihrer globalen Strategie gespielt hat. Frankreich dagegen ist zwar eine europäische Macht, hat aber in den vergangenen Jahrzehnten immer auch signalisiert, dass es seine Interessen etwas anders gewichtet. Und gerade die französische Russlandpolitik hat bei den Zentral- und Osteuropäern Zweifel genährt, ob Frankreich tatsächlich im Zweifel nationale Interessen hinter gesamteuropäische Ziele zurückstellen würde.
tagesschau.de: Warum ist der Gedanke, dass Deutschland eigene nukleare Fähigkeiten aufbaut, abwegig?
Wachs: Hier stellen sich unterschiedliche Fragen, und zwar rechtlich, politisch und militärisch. Militärisch wäre das mit massiven Investitionen verbunden. Rechtlich wäre es nicht vereinbar mit den derzeitigen internationalen Vereinbarungen, die Deutschland eingegangen ist - sowohl die 2 + 4-Verträge als auch der nukleare Nichtverbreitungsvertrag. Und politisch würde Deutschland sich komplett isolieren, seine Allianzen wären schwierig weiter zu pflegen - es würde höchstwahrscheinlich zum Paria ähnlich wie Nordkorea. Deutschland würde alles aufgeben, was Deutschland wichtig ist. Und natürlich würde auch Russland alles daransetzen, ein deutsches Nuklearprogramm zu verhindern.
tagesschau.de: Was bedeutet es, ein besseres Verständnis nuklearer Abschreckung zu entwickeln, wie Sie es eingangs angeregt haben?
Wachs: Es bedeutet, dass man sich intensiv mit Fragen der Nuklearstrategie beschäftigen muss. Wie funktioniert Abschreckung? Was bedeutet Glaubwürdigkeit in diesem Rahmen? Welche Rolle kann Rüstungskontrolle spielen und wo stößt sie an ihre Grenzen? Das sind alles Fragen, die in solchen öffentlichen Debatten immer wieder herunterfallen. Sowohl im politischen Berlin als auch in der Bevölkerung müsste ein besseres Verständnis hierfür entwickelt werden.
tagesschau.de: Und was steht am Ende einer solchen Beschäftigung?
Wachs: Am Ende steht, dass Berlin nicht nur Debatten führt, sondern Szenarien und Optionen einer europäischen Abschreckung wirklich durch- und weiterdenkt und sich mit eigenem Know-how in Diskussionen zur Nuklearstrategie in der NATO und mit Partnern einbringt - und bei der Bevölkerung ein besseres Verständnis dafür schafft, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt, aber auch was die Folgen und Schwierigkeiten wären.@
Das Gespräch führte Eckart Aretz,tagesschau.de
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