Von einer Verfassungsreform zum Jujeñazo

Lithium, Wasser, Territorium

von Felix Dorn und Kristina Dietz

"Hoch die Whippala, nieder mit der Verfassungsreform". Im Herzen Buenos Aires wehen seit über einem Monat die Whippala-Flaggen der indigenen Bewegung. Die indigenen Aktivist*innen aus der nordwestlichen Provinz Jujuy fordern vom Kongress, dem Obersten Gerichtshof und dem amtierenden Präsidenten Alberto Ángel Fernández, die Reform ihrer Provinzverfassung durch Gouverneur Gerardo Morales zu annullieren. Die knapp 2.000 Kilometer legten die Aktivist*innen zu Fuß und per Bus zurück, bis sie am 1. August die Hauptstadt erreichten. Ein wichtiges Datum für die Kulturen der Puna, der Hochwüste im Grenzgebiet zu Chile und Bolivien, die im August den Monat der Pachamama (Mutter Erde) feiern. Sie sprechen von einem Tercer Malón de la Paz, einer dritten Friedensinvasion. Damit stellen sie ihre Bewegung in die Tradition der großen Protestbewegungen 1949 und 2006.

Bei diesen forderten Indigene die Anerkennung der Rechte auf ihr traditionell gemeinschaftlich genutztes Gemeindeland durch den argentinischen Staat. Auch in der aktuellen Auseinandersetzung um die Verfassung von Jujuy geht es um ungeklärte Landrechte - und um die Lithiumvorkommen in den Salzseen des nordwestlichen Hochlands. Weil ihr Anliegen bisher nicht gehört wurde, befinden sich Aktivist*innen seit dem 9. August im Hungerstreik.

  • Verfassung für den Bergbau

Damit erreicht ein Konflikt die Hauptstadt, der seit Juni 2023 den Nordwesten Argentiniens in Atem hält. Im Eiltempo hat die lokale Regierung dort eine neue Verfassung für die Provinz ausgearbeitet und den Entwurf von einer verfassungsgebenden Versammlung absegnen lassen. Sie orientiert sich - so die Kritik der Protestbewegung - vor allem an den Bedürfnissen des privaten Lithiumbergbaus. Auf die Reform reagierten indigene Gemeinschaften mit Massenprotesten in der Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy. Sie blockierten Verkehrswege und insbesondere die Hauptverkehrsrouten nach Bolivien und Chile. Gegen die Blockaden ließ Gouverneur Gerardo Morales schwerbewaffnete Sicherheitskräfte einsetzen. Es gab Schwerverletzte, Aktivist*innen verloren durch Gummigeschosse ihr Augenlicht. Gegen die Polizeigewalt solidarisierten sich soziale Bewegungen im ganzen Land und international mit den Forderungen der indigenen Gemeinschaften. Die Blockade von Verkehrswegen ist eine bewährte Proteststrategie der indigenen Gemeinden der Region. Deswegen ist insbesondere der Artikel 67 des neuen Verfassungsentwurfs ("Recht auf sozialen Frieden und friedliche demokratische Koexistenz") umstritten, der diese Aktionsform verbietet und eine Anmeldepflicht für Protestveranstaltungen vorsieht. Die Kämpfe gegen den Bergbau würde das faktisch schwächen. Ebenso lehnen die Protestierenden den Artikel 74 der reformierten Verfassung ab, der Land als "Arbeits- und Produktionsmittel" definiert. Dies könnte in Zukunft eine verfassungsrechtliche Grundlage dafür sein, dass Land unter dem Vorwand des Gemeinwohls für die Erschließung von Rohstoffen enteignet wird. Jedenfalls würde die Reform die Genehmigung von Lithiumabbau erleichtern. Verschärft wird diese Sorge dadurch, dass zahlreiche Länder, die von indigenen Gemeinden bewirtschaftet werden, nicht als indigene Territorien anerkannt werden, was eine Enteignung durch die Provinzregierung erleichtern würde.

  • Abbau ohne Konsultation

Proteste gegen den Lithiumabbau in indigenen Territorien gibt es in der Region Salinas Grandes seit 2010. Angesichts des intensiven Wasserverbrauchs bei der Lithiumgewinnung fürchten die indigenen Aktivist*innen um ihre Lebensgrundlagen. Die Indigenen der Puna leben vor allem von der Zucht von Lamas, Schafen und Ziegen, der Subsistenzlandwirtschaft, der Weberei und dem handwerklichen Salzabbau. Bereits mit der Ankunft der ersten Lithiumunternehmen im Jahr 2009/2010 organisierten die 33 Gemeinschaften rund um die Salinas Grandes Proteste, blockierten Straßen und gingen rechtlich gegen den Bergbau vor. Nach dem von Argentinien ratifizierten Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hätten die indigenen Völker der Puna eigentlich das Recht, zu Projekten der Rohstoffausbeutung, die ihre Territorien betreffen, vorab konsultiert zu werden. Solche Konsultationen gab es jedoch im Zuge des argentinischen Lithiumbooms nicht.

Eine Klage der Gemeinschaften wies der Oberste Gerichtshof im Jahr 2012 ab und verwies den Fall an die Provinzgerichte. Ebenso brachten die Gemeinschaften ihren Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte und wendeten sich an den UN-Sonderberichterstatter für die Rechte Indigener Völker in Genf. Im Jahr 2015 beschlossen die Gemeinschaften das Kachi Yupi, ein Community-Protokoll mit konkreten Verfahrenswegen für eine Konsultation über Rohstoffabbau im Sinne des ILO-Übereinkommens. Im selben Jahr besuchte Provinzgouverneur Gerardo Morales während seines Wahlkampfs mehrfach die Gemeinschaften der Salinas Grandes und signalisierte seine Bereitschaft, das Protokoll anzuerkennen. Tatsächlich wurde das Kachi Yupi nie offiziell anerkannt.

  • Umkämpftes Land

Ende 2018 führte die argentinische Firma Ekeko SA Erkundungen auf dem Gebiet von drei Gemeinschaften der Provinz Jujuy, Quebraleña, San Miguel del Colorado und Rinconadilla durch. Zur gleichen Zeit schrieb das staatliche Unternehmen JEMSE ohne Zustimmung der Gemeinschaften neue Bergbauprojekte in den Salinas Grandes, der Laguna Guayatayoc sowie dem Salar de Jama aus. Erneut mobilisierten die Gemeinschaften Proteste. Anfang 2019 zog sich Ekeko SA aufgrund der Proteste aus den Gebieten zurück. Seitdem änderten die Gemeinschaften ihren Standpunkt radikal. Statt der Forderung nach vorheriger Konsultation positionieren sie sich nun mit einem klaren "Nein zum Lithium".

Bis heute verfügen die Gemeinschaften der Salinas Grandes nicht über offizielle Landtitel. Im Zusammenhang mit ihrer ökonomischen Unabhängigkeit sowie einer gefestigten Identität des Widerstands führten die Unsicherheiten über die ökologischen Folgen des Lithiumabbaus zum offenen Konflikt mit der Regierung und zu der Forderung nach lokaler Autonomie. Über 13 Jahre Widerstand gegen den Lithium-Bergbau zeigen die Handlungsfähigkeit der lokalen Akteure auf. Mit ihrem Widerstand insistieren die Gemeinschaften dabei einen anderen Entwicklungsweg. Der Rohstoff Lithium spielt für die Bewohner*innen nur eine untergeordnete Rolle. Im Zentrum des Konflikts stehen der Salzsee, Partizipation, Selbstbestimmung, territoriale Kontrolle und ein Ende der kolonialen Logik von Staat und Rohstoffunternehmen.

Die aktuelle Provinzverfassungsreform reiht sich in eine lange Liste von Versuchen ein, die Lithiumexploration auch in den Salinas Grandes zu fördern. Als Reaktion auf die Proteste hat die Provinzregierung jetzt Änderungsvorschläge zu zwei weiteren, besonders kritischen Artikeln (Artikel 36 und 50) gestrichen, in denen es um Enteignungsmechanismen sowie um die Befugnisse des Staates in Bezug auf indigene Rechte ging. Alle anderen Änderungsvorschläge haben bislang Bestand. Sozialwissenschaftler*innen wie Melisa Argento bezeichnen die Verfassungsreform daher weiterhin als einen Versuch, den Konflikt mit den Gemeinschaften ein- für allemal zu beenden und alle territorialen Ansprüche zu unterdrücken. Die argentinische Wirtschaftszeitung El Cronista beschreibt die Reform als "eine Carta Magna, die den sozialen Protest einschränkt, eine extraktivistische Sichtweise auf Ressourcen fördert und die Rechte indigener Völker einschränkt".

Die Gemeinschaften betonen, dass der dritte Malón de la Paz erst zu Ende sei, wenn die Reform fällt und die Landtitel übergeben werden Dagegen ließ Gerardo Morales die Straßenblockade einen Tag nach dem Sieg des ultrarechten Präsidentschaftskandidaten Javier Milei bei den Vorwahlen im August 2023 mithilfe des Militärs auflösen. Ob die Widerstandsbewegung die jüngsten Schachzüge der Provinzregierung politisch übersteht, hängt von der Stabilität ihrer Netzwerke, politischem Druck, der (nationalen und internationalen) Aufmerksamkeit und vom Ausgang der argentinischen Präsidentschaftswahlen im Oktober 2023 ab. @

Felix Dorn arbeitet als Universitätsassistent am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien.
Kristina Dietz lehrt und forscht an der Uni Kassel zu Herausforderungen sozial-ökologischer Transformation aus globaler Perspektive mit regionalem Schwerpunkt Lateinamerika, aktuell zur Bedeutung der globalen Energiewende.

 

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