Gesellschaftlicher Wohlstand im Norden beruht auf der Plünderung von Ressourcen und dem massiven Transfer von Reichtum aus dem Süden Grüner Kolonialismus von Hamza Hamouchene Um die Klimakrise in den Griff zu bekommen, ist es unausweichlich, auf einen massiven Ausbau von erneuerbaren Energien zu setzen. Doch die Großprojekte im nördlichen Afrika rauben der lokalen Bevölkerung Boden und Ressourcen, um den imperialen Lebensstil in Europa abzusichern. Bereits heute ist die Realität des Klimakollapses in Nordafrika und der arabischen Region unverkennbar, insbesondere mit Blick auf zunehmend ausgehöhlte ökologische und sozioökologische Lebensgrundlagen. So werden Länder wie Algerien, Tunesien, Marokko und Ägypten immer wieder von schweren Hitzewellen und lang anhaltenden Dürren heimgesucht, mit katastrophalen Auswirkungen auf die Landwirtschaft sowie auf Kleinbäuerinnen und Kleinbauern. Im Sommer 2021 war Algerien von beispiellos verheerenden Waldbränden betroffen; Tunesien erlebte eine erdrückende Hitzewelle mit Temperaturen von fast 50 Grad Celsius; Südmarokko kämpfte das dritte Jahr in Folge mit einer schlimmen Dürre; im Südosten Ägyptens verloren über tausend Menschen ihre Häuser durch Überschwemmungen und Hunderte Menschen wurden durch Skorpione verletzt, die aufgrund der extremen Wetterbedingungen aus dem Boden hervorgekrochen waren. Der Weltklimarat IPSS (Intergovernmental Panel on Climate Change) geht davon aus, dass in den kommenden Jahren extreme Wetterereignisse wie Waldbrände und Überschwemmungen in der Mittelmeerregion ebenso zunehmen werden wie Trockenheit und Dürren. Die Bewältigung der globalen Klimakrise erfordert eine rasche und drastische Verringerung der Treibhausgasemissionen. Ein Übergang zu erneuerbaren Energien erscheint mittlerweile unausweichlich, doch dass dieser auch mit mehr Gerechtigkeit einhergehen soll, ist keinesfalls selbstverständlich. Im Zuge des Übergangs zu nachhaltigen Energieträgern werden vielmehr Praktiken der Enteignung und Ausbeutung aufrechterhalten und Ungerechtigkeiten reproduziert, die sozioökonomische Ausgrenzung verschärft sich. Die Sahara wird meist als riesige Leere, als dünn besiedelte Landfläche beschrieben. Sie gilt als Eldorado für erneuerbare Energien und somit als wertvolle Gelegenheit, ein Europa mit Energie zu versorgen, das seinen extravaganten konsumistischen Lebensstil und übermäßigen Energieverbrauch beibehalten möchte. Dieses Narrativ ist trügerisch und lässt nicht nur Fragen von Eigentum und Souveränität außer Acht. Es verschleiert auch globale Hegemonie- und Herrschaftsverhältnisse, die der Plünderung von Ressourcen, der Privatisierung von Gemeingütern und der Enteignung lokaler Communities Tür und Tor öffnen, und schreibt in der Durchsetzung dieser Wende undemokratische und ausgrenzende Dynamiken fest. Es gibt ausreichend Beispiele aus der nordafrikanischen Region, die zeigen, wie auch in der Wende hin zu erneuerbaren Energien Formen des Kolonialismus fortbestehen - nämlich ein Energie- beziehungsweise grüner Kolonialismus, der sich unter anderem als ›Green Grabbing‹ kristallisiert. Der Begriff Green Grabbing beschreibt den Prozess von Landnahme, die im Rahmen einer angeblich grünen Agenda stattfindet und mit dieser gerechtfertigt wird, anders gesagt: die Aneignung von Land und Ressourcen zu vermeintlich ökologischen Zwecken. Beispiele hierfür sind Naturschutzprojekte, bei deren Realisierung indigene Gemeinschaften ihres Landes und ihrer Territorien beraubt werden, die Konfiszierung kommunaler Ländereien für die Produktion von Biokraftstoffen und die Errichtung großer Solaranlagen und Windparks auf dem Land von Viehzüchter*innen ohne deren Zustimmung. Der Kolonialismus mag formell beendet sein, jedoch setzt er sich in Formen wie diesen und auf verschiedenen Ebenen fort. Die meisten Ökonomien der Peripherie beziehungsweise des globalen Südens sind einer zutiefst ungerechten globalen Arbeitsteilung untergeordnet. Denn der globale Süden dient einerseits als Lieferant billiger Ressourcen und Reservoir billiger Arbeitskräfte, andererseits als Exportmarkt für die industrialisierten Ökonomien. Einige Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen sprechen deshalb zu Recht von Neokolonialismus oder Rekolonisierung, denn diese Situation ist eine direkte Folge des Kolonialismus und bleibt weiterhin von ihm geprägt. Jegliche Versuche, sich davon zu lösen, sind bislang durch die neuen Instrumente imperialer Unterwerfung zunichtegemacht worden. Dazu gehören lähmende Schuldenberge, der Kult des ›Freihandels‹ und von den internationalen Finanzinstitutionen auferlegte Strukturanpassungsprogramme. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Abkehr von fossilen Brennstoffen, müssen wir die Zusammenhänge zwischen diesen Energieträgern und der allgemeinen Wirtschaftsstruktur genau untersuchen und die Machtverhältnisse und Hierarchien des internationalen Energiesystems ansprechen. Das beinhaltet auch die Einsicht, dass die Länder des globalen Südens nach wie vor systematisch ausgebeutet werden von einer kolonialen, imperialistischen Wirtschaft, deren Existenz auf der Plünderung von Ressourcen und dem massiven Transfer von Reichtum aus dem Süden in den Norden beruht.
Grüner Kolonialismus bedeutet nach meinem Verständnis die Ausweitung kolonialer Ausplünderungs- und Enteignungsverhältnisse, die Entmenschlichung eines vermeintlich ›Anderen‹ und insgesamt eine Verlagerung sozioökologischer Kosten in das grüne Zeitalter beziehungsweise die Epoche der erneuerbaren Energien hinein. Der derzeitig ungleiche Übergang zu erneuerbaren Energien, der sich hauptsächlich auf den globalen Norden beschränkt, beruht auf der fortlaufenden Gewinnung seltener Erden für die Herstellung von Solarzellen, Windturbinen, Rotorblättern und elektrischen Batterien. Und woher kommen diese Ressourcen? Aus Ländern wie dem Kongo, Bolivien, Chile und Marokko, wo für diese Zwecke die Umwelt zerstört und Arbeiter*innen weiterhin und noch verschärft ausgebeutet werden. Das System, mit dem wir es hier zu tun haben, ist im Grunde dasselbe wie bisher, lediglich die Energiequellen ändern sich. Anstelle fossiler Brennstoffe soll eben nun auf ›grüne‹ Energie zurückgegriffen, die globalen, energieintensiven Produktions- und Konsummuster sollen aber beibehalten werden. Politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen, die Ungleichheit, Verarmung und Enteignung verursachen, sollen unangetastet bleiben. Schauen wir uns Marokko an, ein Idealbeispiel für eine durch und durch ungerechte Energiewende, bei der die Mitsprache der Bevölkerung in keinster Weise vorgesehen ist. So auch im Falle des 2016 in Betrieb genommenen Solarkraftwerks in Ouarzazate, das den Amazigh-Gemeinden, deren Land ohne ihre Zustimmung für die Errichtung der 3 000 Hektar großen Anlage genutzt wurde, nicht den Hauch von Gerechtigkeit gebracht hat. Für dieses Projekt wurden neun Milliarden US-Dollar an Schulden angehäuft, die bei der Weltbank, der Europäischen Investitionsbank und anderen Instituten durch Garantien der marokkanischen Regierung abgesichert sind. Für das ohnehin finanziell bereits überbelastete Land bedeutet das eine weitere Verschlimmerung seiner finanziellen Situation. Außerdem erwähnenswert: Das Projekt weist seit seiner Inbetriebnahme ein jährliches Defizit von rund 80 Millionen Euro auf, das mit öffentlichen Geldern kompensiert wird. Die konzentrierte thermische Energie (concentrated solar power, CSP), die in dem Solarkraftwerk zum Einsatz kommt, geht außerdem mit einem hohen Wasserverbrauch einher, da die Anlage kontinuierlich gekühlt und die Paneele gereinigt werden müssen. Riesige Mengen an Wasser werden hierfür einer ohnehin halbtrockenen Region abverlangt und der lokalen Trinkwasserversorgung und Landwirtschaft entzogen. Der marrokanische Solarenergieplan sieht in seiner zweiten Phase ein weiteres Kraftwerk vor, das Projekt "Noor Midelt", das eine noch höhere Energiekapazität als das Kraftwerk in Ouarzazate bieten soll. Es wird eines der weltweit größten Solarprojekte sein, das CSP- und PV-Technologien kombiniert. Die Anlagen werden über eine Laufzeit von 25 Jahren vom französischen Konzern EDF Renewables, dem emiratischen Konzern Masdar und dem marokkanischen Konglomerat Green of Africa betrieben, in Partnerschaft mit der Marokkanischen Agentur für Solarenergie (MASEN). Für das Projekt wurden bisher Darlehen in Höhe von rund vier Milliarden US-Dollar bei der Weltbank, der Afrikanischen Entwicklungsbank, der Europäischen Investitionsbank und anderen Kreditinstituten aufgenommen. Und natürlich werden die Anlagen auf Tausenden von Hektar kommunalen Landes gebaut, das den eigentlichen Eigentümer*innen entzogen worden ist. Der Hirtenstamm von Sidi Ayad, der das Land seit Jahrhunderten zum Weiden seiner Tiere nutzt, protestiert gegen dieses Projekt und bezeichnet es zu Recht als "Besetzung". Vor diesem Hintergrund darf auch die Besetzung der Westsahara durch Marokko nicht unerwähnt bleiben. Während einige der Projekte in Marokko wie die genannten Ouarzazate- und Midelt-Solarkraftwerke unter die Praxis des "Green Grabbing" fallen, lassen sich ähnliche Projekte für Solar- und Windkraftenergie, die in den besetzten Gebieten der Westsahara gegen den Willen der Saharawis gebaut werden, schlicht als "grüner Kolonialismus" bezeichnen. Diese Projekte dienen unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit dazu, die marokkanische Besatzung der Region zu festigen, mit offensichtlicher Komplizenschaft des ausländischen Kapitals und ausländischer Unternehmen. Blicken wir nun nach Tunesien. Dort wird derzeit die Privatisierung erneuerbarer Energien stark vorangetrieben - ausländischen Investor*innen werden enorme Anreize geboten, im Land grüne Energie zu produzieren, auch für den Export. Ein 2015 verabschiedetes und 2019 ergänztes Gesetz erlaubt hierfür sogar eine entsprechende Nutzung landwirtschaftlicher Flächen - und das in einem Land, das unter akuter Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten leidet (wie sich während der Pandemie und zuletzt auch im Zuge des Ukraine-Kriegs gezeigt hat). Man muss sich fragen: Energiewende - für wen? Meist genügt ein Blick auf die Investoren dieser Projekte, um diese Frage zu beantworten. Im Falle des Projekts TuNur sind es britische, maltesische und tunesische Unternehmen, die gleich eine ganze Reihe von Projekten vorantreiben, die schlussendlich Europa mit kostengünstiger Energie versorgen sollen. Hier erkennen wir die gleichen extraktivistischen Verhältnisse und die gleichen Praktiken von Einhegung und Landnahme - und das in einem Land, das nicht einmal seinen eigenen Energiebedarf decken kann. Die oberflächlich guten Absichten, die diesen Großprojekten zur Förderung erneuerbarer Energien vorangestellt werden, beschönigen letztlich nur die brutalen Formen von Ausbeutung und Raub, mit denen sie vorangetrieben werden. Wir haben es hier mit einem altbekannten kolonialen Schema zu tun: Billige Ressourcen (einschließlich grüne Energie) fließen ungehindert aus dem globalen Süden in den reichen Norden, während die Festung Europa Mauern und Zäune hochzieht, die Menschen davon abhalten sollen, ihre Küsten zu erreichen. Während einige westliche Regierungen sich als ökologisch fortschrittlich darstellen, zum Beispiel indem sie Fracking innerhalb ihrer Landesgrenzen verbieten und Ziele zur Verringerung von Kohlenstoffemissionen festlegen, bieten sie ihren multinationalen Unternehmen diplomatische Unterstützung für die Ausbeutung von Ressourcen in ehemaligen Kolonien an, wie es Frankreich mit Total in Algerien getan hat. Ein deutlicheres Beispiel für Energiekolonialismus und Umweltrassismus ist kaum vorstellbar. Dass wir es nicht mit einer Energiewende, sondern vielmehr mit einer Energieexpansion zu tun haben, sehen wir daran, dass in verschiedenen Regionen der Welt, etwa in Nordafrika und im östlichen Mittelmeerraum, zunehmend fossile Energieprojekte gefördert werden. Beobachten lässt sich diese Entwicklung ganz besonders gut im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und den Versuchen der EU, die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu verringern, etwa an der Vereinbarung Italiens und Algeriens, die Gaslieferungen nach Italien auszuweiten. Der algerische Staatskonzern Sonatrach und der italienische Konzern Eni werden 2023/24 nochmals neun Milliarden Kubikmeter fördern, zusätzlich zu Lieferungen von Flüssigerdgas aus Ägypten, Israel und Katar in die EU. Die Energiesicherheit der EU scheint allem vornan zu stehen. Und so erleben wir in den von Ausbeutung betroffenen Ländern eine zunehmende Abhängigkeit von der Erdgasförderung, mehr Extraktivismus, mehr Pfadabhängigkeiten und ein zum Erliegen kommender Übergang zu nachhaltigen Energieträgern. Wie können diese Prozesse wieder in Gang gebracht werden? Im Fall von Algerien und anderen Ländern in der Region, die reich an fossilen Energieträgern sind, müssen finanzielle Ausgleiche thematisiert werden, die Anreize bieten, das Öl im Boden zu lassen. Wir müssen bewusst Bündnisse schmieden zwischen Arbeiter*innenbewegungen und anderen Bewegungen für soziale und ökologische Gerechtigkeit. Wir müssen einen Weg finden, die Arbeiter*innen in der Ölindustrie in die Diskussionen über die Energiewende und grüne Arbeitsplätze einzubeziehen, denn eine Wende wird es ohne sie nicht geben. Deshalb ist es von größter Bedeutung, dass Gewerkschaften an den entsprechenden Diskussionen beteiligt werden.
Ich möchte nun ein wenig auf grünen Wasserstoff eingehen, genauer gesagt auf den neuen Hype um diesen Energieträger. Auch hinter diesem verbirgt sich nichts anderes als die Absicht, der fossilen Energiewirtschaft ihren Extraktivismus weiter zu ermöglichen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die EU Nordafrika dazu drängt, grünen Wasserstoff zu produzieren und zu exportieren und damit neokoloniale Zusammenhänge festschreibt und ausweitet. Im Rahmen des European Green Deal (EGD) hat die EU mit ihrer Wasserstoffstrategie einen ehrgeizigen Fahrplan formuliert, der einen Übergang zu grünem Wasserstoff bis 2050 vorsieht. Darin findet sich auch der Vorschlag, dass die EU einen Teil ihres künftigen Bedarfs in Afrika, insbesondere in Nordafrika, decken könnte, da diese Region nicht nur ein enormes Potenzial an erneuerbaren Energien, sondern auch eine geografische Nähe zu Europa biete. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine haben diese Pläne erneut an Bedeutung gewonnen; fossiles Erdgas durch Wasserstoff aus erneuerbaren Energien zu ersetzen, ist ein zentrales Element von REPowerEU, dem Plan der Europäischen Kommission zur Beendigung der Abhängigkeit von russischem Erdgas. Die EU-Kommission bemüht sich, zukünftige Gaslieferungen nicht mehr aus Putins Russland, sondern lieber aus anderen autoritären Regimen wie Algerien, Aserbaidschan, Ägypten und Katar oder dem siedlerkolonialen Apartheidstaat Israel zu beziehen. Der Bau neuer Häfen und Pipelines für den Import und Transport von Erdgas wird dementsprechend vorangetrieben. Darüber hinaus plant die EU-Kommission, ihre Wasserstoffimporte bis 2030 von derzeit fünf Millionen auf 20 Millionen Tonnen zu vervierfachen. Die Hälfte davon soll aus Nordafrika importiert werden, aber auch von anderen Ländern ist die Rede: Namibia, Südafrika, Demokratische Republik Kongo, Chile, Saudi-Arabien und so weiter. Das Desertec-Projekt weist ebenfalls in diese Richtung und spricht sich sogar dafür aus, die bestehende Gaspipeline-Infrastruktur für den Import von Wasserstoff aus Nordafrika zu nutzen. Im Grunde geht es also darum, die Energiequelle auszutauschen, die bestehenden autoritären politischen Dynamiken sowie Hierarchien der imperialen internationalen Ordnung jedoch beizubehalten. Darüber hinaus wird im Desertec-Manifest darauf hingewiesen, dass "in einer ersten Phase eine beträchtliche Wasserstoffmenge durch die Umwandlung von Erdgas in Wasserstoff erzeugt werden kann. Das dabei entstehende CO2 kann in den ungenutzten Gas- und Ölfeldern Nordafrikas gelagert werden." Nicht nur würden für diesen Prozess abermals ohnehin knappe Wasserressourcen ausgebeutet; durch die erforderlichen Entsalzungsverfahren würde eine weitere Umweltverschmutzung riskiert werden. Dieses Projekt reiht sich also ein in eine Dynamik, in der der globale Süden zur Mülldeponie des globalen Nordens gemacht wird und die Umweltkosten von Konsumismus und Wohlstand andernorts tragen muss.
Beim Übergang zu nachhaltigen Energieträgern sollte es tatsächlich nicht nur um Energie gehen. Verändert werden müsste auch die Art und Weise, wie wir Landwirtschaft betreiben, denn auch in der industriellen Landwirtschaft beziehungsweise dem Agribusiness überschneiden sich imperialistische Herrschaft und Klimawandel. Die industrielle Landwirtschaft ist nicht nur eine der treibenden Kräfte des Klimawandels, sondern sie hält auch viele Länder des Südens in einem ruinösen Agrarsystem gefangen. Dieses System beruht auf dem Export einiger weniger ›Cash Crops‹ und der nicht nachhaltigen Nutzung von Land und knappen Wasserressourcen in ariden und semiariden Regionen wie Ägypten, Tunesien und Marokko. Wir dürfen also nicht nur nicht zulassen, dass die EU Nordafrika dazu drängt, grünen Wasserstoff zu produzieren und zu exportieren und damit neokoloniale Zusammenhänge festschreibt und ausweitet. Wir müssen auch verhindern, dass die Ernährungssouveränität der lokalen Bevölkerung untergraben wird.
Ich glaube, dass der Rahmen einer Just Transition ("Gerechter Übergang") in dieser Hinsicht einige Denkanstöße bieten kann. Das ursprüngliche Konzept der Just Transition beruht darauf, Bündnisse zu schmieden zwischen Arbeiter*innen in umweltverschmutzenden Industrien und den Communities, die unmittelbar von den ökologischen Folgen dieser Industrien betroffenen sind. Das Framework erlangte Popularität, da mit dessen Hilfe die Forderungen von Arbeiter*innen in Bezug auf Umweltkonflikte zum Ausdruck gebracht und unterschiedliche Formen des Widerstands gegen das vorherrschende Wirtschaftsmodell zusammengeführt werden können: gegen ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten verwüstet, Reichtum in wenigen Händen konzentriert, Arbeiter*innen auf der ganzen Welt zunehmend ausbeutet und die Auswirkungen all dessen unverhältnismäßig stark auf marginalisierte Communities zurückfallen lässt. Wir wissen, dass das derzeitige Wirtschaftssystem die lebenserhaltenden Systeme dieses Planeten untergräbt und sie perspektivisch zum Kollabieren bringen wird. Der Übergang ist also unausweichlich geworden. Ob es sich allerdings um einen gerechten Übergang handeln wird, ist noch offen. Just Transition bietet einen Rahmen, um den Übergang zu einer Wirtschaft zu denken, die ökologisch nachhaltig und für alle Betroffenen fair ist. Eine just transition bedeutet einen Übergang von einem Wirtschaftssystem, das auf der Ausbeutung von Ressourcen und Menschen beruht, zu einem System, das stattdessen auf die Restauration und Regeneration geschädigter Gebiete abzielt und zugleich die Rechte und Würde der Menschen wahrt. Ein robustes und radikales Verständnis dieses gerechten Übergangs begreift in einem ersten Schritt Umweltzerstörung, kapitalistische Ausbeutung, imperialistische Gewalt, Ungleichheit, Ausbeutung und Marginalisierung entlang der Achsen von Rassismus, Klasse und Geschlecht. Im zweiten Schritt treten diese Phänomene als sich entfaltende Auswirkungen eines globalen Systems hervor, das es zu transformieren gilt. ›Lösungen‹, die Einzelaspekte wie die ökologische Krise herausgreifen und diese nicht zu den ursächlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen in Beziehung setzen, werden zwangsläufig ›falsche Lösungen‹ bleiben. Ein gerechter Übergang sieht an jedem Ort anders aus - und muss auch an jedem Ort anders aussehen. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die massiven globalen und historischen Ungleichheiten und deren Fortbestand Teil des Problems sind, das es zu lösen gilt, wenn wir eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft schaffen wollen. Das bedeutet, dass ein gerechter Übergang an verschiedenen Orten sehr unterschiedliche Dinge bedeuten kann. Was in Europa funktioniert, muss nicht unbedingt auch in Afrika funktionieren. Was sich in Ägypten bewährt, muss nicht unbedingt auch in Südafrika bestehen. Und was sich in marokkanischen Städten als weiterführend erweist, ist vielleicht für die ländlichen Gebiete Marokkos unangemessen. Wir müssen also fantasievoll sein und einen dezentralen Ansatz verfolgen, der von der lokalen Bevölkerung selbst geleitet wird. Die Energiewende muss unter der demokratischen Kontrolle von Arbeiter*innen und lokalen Communities stehen. Sie darf nicht dem Privatsektor und den Unternehmen überlassen werden. Benötigt werden umfangreiche öffentliche Investitionen in erneuerbare Energien, öffentliche Verkehrsmittel und eine Diversifizierung der Wirtschaft, die fossile Energieträger hinter sich lässt. Das sollte mit dem Erlass von Schulden, Steuergerechtigkeit und der Beendigung der Kapitalflucht aus Ländern der Peripherie einhergehen. Der größte Teil der Finanzierung sollte aus dem globalen Norden stammen, in Form von Rückzahlungen ökologischer Schulden, also von Klimareparationen an Länder des globalen Südens. Auch die Handelsbeziehungen müssen in Richtung Fairness und Gerechtigkeit umgestaltet werden, damit der jahrhundertelange ungleiche Tausch in den Bereichen Ökonomie und Ökologie beendet wird. Es gilt, Spielräume für souveräne Entscheidungen zu schaffen. Derzeit werden solche Spielräume durch internationale Schlichtungsverfahren und Handelsverträge negiert; vielmehr wird es multinationalen Unternehmen ermöglicht, jede Regierung zu verklagen, die es wagt, Unternehmensgewinne beispielsweise durch neue Arbeits- oder Umweltvorschriften zu schmälern. Es ist stets die Rede von mangelnder Technologiekompetenz, wenn Megaprojekte wie die oben beschriebenen im globalen Süden vorangetrieben werden. Doch woher rührt dieser Kompetenzmangel? Hat er nicht mit den anhaltenden Herrschafts- und Aneignungsverhältnissen zu tun? Ist er nicht auf die Monopolisierung von Technologie und das System des geistigen Eigentums zurückzuführen, dessen Grausamkeit in der aktuellen Pandemie deutlich geworden ist? Spielen hier nicht auch Strukturanpassungsprogramme eine Rolle, die öffentliche Dienstleistungen und wissenschaftliche Forschung untergraben? Für eine rasche und gerechte globale Energiewende müssen die Monopole auf grüne Technologien beendet werden. Es gilt, das entsprechende Wissen den Ländern und Communities des globalen Südens zugänglich zu machen. In vielerlei Hinsicht bieten uns die Klimakrise und der notwendige Übergang zu nachhaltigen Energieträgern eine Chance, die Politik neu zu gestalten. Die Bewältigung des dramatischen Wandels wird einen Bruch mit den bestehenden militaristischen, kolonialen und neoliberalen Projekten erfordern. Deshalb muss der Kampf für einen gerechten Übergang zu nachhaltigen Energieträgern und für Klimagerechtigkeit ein demokratischer sein. Er sollte die am stärksten betroffenen Communities einbeziehen und darauf abzielen, die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Es geht darum, eine Zukunft zu schaffen, in der alle Menschen über genügend Energie und eine saubere und sichere Umwelt verfügen. Eine solche Zukunft würde auch im Einklang stehen mit den revolutionären Forderungen der afrikanischen und arabischen Aufstände nach Souveränität, Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.@
Dr. Hamza Hamouchene ist ein algerischer Forscher und Aktivist. Derzeit ist er Koordinator des Nordafrika-Programms des Transnational Institute (TNI) und lebt in London. |
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