Eine ökofeministische Utopie – die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft

Auf der Suche nach Würde und Überleben

von Mirijam Salfinger

Die Rede von Utopien ist Teil der christlichen Tradition. Sie kommt einem Traum für die Zukunft gleich und ist gleichzeitig eine Kritik an der gegenwärtigen Realität. Mirijam Salfinger sieht im Ökofeminismus aus Lateinamerika eine sinnvolle Utopie angesichts der Krisen unserer Zeit.

Der Begriff der Krise ist aus unserem Vokabular nicht mehr wegzudenken. Die Titelseiten unserer Medienlandschaft berichten regelmäßig von Finanzkrisen, Migrationskrisen, der Coronakrise, der Russland- beziehungsweise der Ukrainekrise und damit verbunden von der Energiekrise sowie von der Umweltkrise, die immer öfter als Klimakatastrophe bezeichnet wird. Mit Blick auf die letzten Jahre scheint es, also würden wir als Gesellschaft, als Europäer*innen, als Teil der Weltbevölkerung nicht nur vor multidimensionalen und globalen Herausforderungen stehen, sondern von einer Krise in die nächste geraten. Als Reaktion darauf wurden und werden immer wieder Stimmen laut, die nach Veränderung rufen und diese vehement einfordern. Damit einhergehend stellt sich die Frage nach Alternativen und einem neuen Weg, der uns auf Zukunft hoffen lässt.

    Perspektive der Marginalisierten

Die brasilianische Theologin, Philosophin und Ökofeministin Ivone Gebara spricht von der Notwendigkeit einer neuen Utopie. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Perspektive marginalisierter Menschen – insbesondere jene von marginalisierten Frauen, mit denen sie in Recife, Brasilien arbeitet. Sie leiden täglich unter den Auswirkungen einer Gesellschaft, die von patriarchalen Strukturen und Kapitalismus durchdrungen ist. Die Versorgung von und Sorge um Familienmitglieder obliegen meist Frauen, weshalb sie oft am stärksten von den Auswirkungen der Zerstörung des Ökosystems betroffen sind.

Ziel einer ökofeministischen Utopie ist es, eine Welt aufzubauen, in der arme und ausgegrenzte Menschen auf der Grundlage von Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität einen Platz haben, um in Frieden und Würde zu leben. Dabei handelt es sich um eine politische und vor allem auch kreative Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Wenn wir uns nicht für das Leben des Planeten und die Achtung aller Lebewesen entscheiden, kommt dies der Entscheidung für unseren eigenen Tod gleich. Damit das Recht aller Arten auf Leben sowie das Gemeinwohl respektiert werden, sollen neue ethische Bezugspunkte für das menschliche Zusammenleben in Gemeinschaft geschaffen werden. Diesem gemeinsamen Vorhaben dürfen auch religiöse Überzeugungen nicht im Weg stehen – Gebara plädiert daher für überkonfessionelle Zusammenarbeit. Angesichts dieser Herausforderung müsse man, für andere Ansätze, Positionen und Utopien offen bleiben. Viel wichtiger als auf den eigenen Standpunkt zu beharren, sei es, sich dem gemeinsamen Anliegen bewusst zu werden:

Der Kampf für eine neue internationale Ordnung, in der Menschen nicht nur einander, sondern auch die Umwelt respektieren. Dafür brauche es eine kritische Analyse dessen, was in der Welt gerade vorgeht, um herauszufinden, was eine gemeinsame Utopie für uns alle sein könnte.

Und eine neue Utopie, eine Form der Hoffnung, brauchen die Menschen – brauchen wir – angesichts der zunehmenden Zahl ausgegrenzter Gruppen; angesichts der zunehmenden Zerstörung verschiedener Pflanzen- und Tierarten; angesichts der Tatsache, dass sich der Reichtum weiterhin und zunehmend in den Händen einer kleinen Elite befindet. Gebara hebt hervor, dass sich die Menschheit – und mit ihr die Umwelt – als einen zusammenhängenden Körper (selbst) zerstört.

    Utopie Ökofeminismus?

Ökofeminismus thematisiert genau diese zusammenhängende Zerstörung und verbindet dabei feministisches und ökologisches Denken. Dabei ist die Grundthese, dass die Wurzel der Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen sowie auch der Ausbeutung und Zerstörung der Natur im patriarchalen Denken liegt. Es handelt sich hierbei nicht per se um eine theologische Strömung, sondern um eine weltweite Bewegung, die sich sowohl im säkularen als auch im religiösen Bereich findet. Vor allem im Ökofeminismus des globalen Südens wird die Ausbeutung durch den Kolonialismus thematisiert, es ist also auch eine postkoloniale Bewegung.

Ziel einer ökofeministischen Utopie ist die Beendigung von Unterdrückungs- und Gewaltstrukturen, sowohl in Bezug auf Geschlechterbeziehungen sowie auch im Verhältnis der Menschen gegenüber der Natur. Dabei wird die patriarchale Weltsicht kritisiert und eine ganzheitliche und relationale Sicht des Menschseins und der Welt als Ganzes als Gegenentwurf entwickelt. Gebara betont die Notwendigkeit, den feministischen und ökologischen Kampf zu vereinen, denn die Option für die Armen beinhaltet auch die Option für das Überleben des Ökosystems und der Natur als Ganzen. Die ökofeministische Theologie in Lateinamerika ist ihrer Meinung nach ein Anliegen von Minderheiten - insbesondere von weiblichen Minderheiten.

"Es ist eine Denkweise, die einen Teil der Schreie der wachsenden Masse der Ausgegrenzten auf der Suche nach Überleben und Würde wiedergibt."

    Kolonialismus, Sexismus und die Ausbeutung der Natur

Ein zentraler Punkt des Ökofeminismus im Allgemeinen ist die Kritik an Dualismen, deren Herkunft vor allem in der europäischen Weltsicht verortet wird. Im Zentrum der Kritik steht vor allem die weiterhin vorherrschende Gegenüberstellung von Mensch und Natur, von Kultur und Natur, von Mann und Frau sowie von Verstand und Gefühl. Dabei korrelieren jeweils erstere – also Mensch, Kultur, Mann und Verstand – gegenüber zweiteren – Natur, Frau und Gefühl – womit eine Unter- und Überordnung einhergeht. Das jeweils andere – also Natur, vermeintliche-Nichtkultur und Frauen werden als hilfsbedürftig, untergeordnet und minderwertig angesehen. Dadurch wurde und wird das Recht zu deren Ausbeutung und Beherrschung legitimiert.

Da Kolonialismus, Sexismus sowie die Ausbeutung der Natur aus Sicht des Ökofeminismus nicht nur eine gemeinsame Wurzel, sondern auch zahlreiche Überschneidungen haben, müssen sie auch gemeinsam überwunden werden.

    Zueinander-in-Beziehung-stehen

Diesen Dualismen wird das Prinzip der Interrelationalität entgegengesetzt. Demnach gehen mit der multiplen wechselseitigen Bezogenheit zwischen allen Dingen, der Natur, den Lebewesen und Menschen sowie zwischen den Menschen unterschiedlichen Geschlechts mit verschiedener ethnischer Herkunft aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten auch diverse Formen des gegenseitigen Angewiesenseins einher. Dieses zueinander-in-Beziehung-stehen wird als Chance für das gemeinsame und individuelle Wachstum und damit als Reichtum angesehen.

Diese Verbundenheit besteht laut Gebara nicht nur unter den Menschen oder auch zwischen allen Lebewesen, sondern schließt die Natur als Ganze und den gesamten Kosmos mit ein. Der eurozentristischen Rationalität stellt sie die Idee einer ökologischen Gemeinschaft aller mit allen und allem gegenüber. Dabei kritisiert sie sowohl Androzentrismus als auch Anthropozentrimus und plädiert für einen inklusiven anthropologischen Bezugsrahmen, der nicht idealistisch, sondern realistisch, nicht dualistisch, sondern holistisch, nicht eindimensional, sondern multidimensional ist.

Gebara hebt vehement die Interrelationalität dieser Unterdrückungsstrukturen hervor und betont, dass daher eine tiefgreifende und umfassende Veränderung nötig ist. Sie ist davon überzeugt, dass der individuelle Kampf von Einzelpersonen und Gruppen, zwar Einzelnen hilft, aber jene Strukturen, die unfaire Lebenssituationen hervorbringen, nicht verändern kann. Sie stellt dabei jedoch nicht in Frage, dass auch individuell und lokal gehandelt werden muss, aber betont mit Verweis auf die globale Verbundenheit, dass vor allem auch internationales Handeln nötig ist im Kampf für den globalen Sozialfrieden.

Die globalen Zusammenhänge, die Gebara und mit ihr viele andere Ökofeministinnen zur Sprache bringen, sind in Bezug auf die Klimakatastrophe nicht von der Hand zu weisen und wurden uns in den letzten Jahren verstärkt auch durch die eingangs benannten Krisen bewusst und in Erinnerung gerufen.

Die Verantwortung Europas im Kontext globaler Zusammenhänge kann aus heutiger Sicht nicht mehr negiert werden. Dies zeigt zudem die Auseinandersetzung mit Europas Kolonialgeschichte und Abhängigkeitstheorien wie der Dependenztheorie oder Postkolonialen Analysen. Die Forderung nach einem gemeinsamen ethischen Horizont erscheint nicht nur angesichts der bereits genannten Krisen angebracht, sondern auch mit Blick auf die Pluralisierung der Gesellschaft, die die Politik und die Menschen selbst weiterhin vor eine Vielzahl von Herausforderungen stellen.

Um (wieder) gemeinsam hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können, müssen idiologische, territoriale und nicht zuletzt konfessionelle Grenzen überwunden werden. Der ökofeministische Ansatz Gebaras lässt eben diese Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft wieder aufleben, weshalb die Auseinandersetzung damit gerade auch aus europäischer Perspektive angesichts aktueller multidimensionaler Herausforderungslagen lohnender denn je erscheint.

Die Verschränkung von Ökologie und Feminismus, von Kapitalismus-, Kolonialismus- und Patriarchalismuskritik ist meiner Meinung nach nicht nur am Zahn der Zeit – und antwortet damit theologisch gesprochen auf Zeichen der Zeit – sondern birgt auch großes Potential vor allem auch für die (europäische) Theologie. Der Blick über die eigenen Grenzen hinaus – wie in diesem Fall nach Lateinamerika – zeigt unter anderem auch die Notwendigkeit auf, innerhalb der Theologie eurozentristische Perspektiven zu dekonstruieren und somit die jeweils eigenen Bezugsrahmen zu reflektieren. Indem Ökofeminismus die gegenseitige Abhängigkeit aller berücksichtigt, sich einsetzt für die Beendigung der Ausbeutung und die Befreiung aus Unterdrückungsstrukturen (in die nicht nur Menschen miteinbezogen werden), stellt dieser Entwurf eine erstrebenswerte Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit dar.

aus:
Y-nachten.de/2023/05/eine-oekofeministische-utopie-die-hoffnung-auf-eine-gemeinsame-zukunft

 

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