Plädoyer für eine breite Debatte über die notwendige gesellschaftliche Transformation.

Es geht um alles!

von der Gruppe Utopie und Umbruch

Wir wünschen uns eine Diskussion innerhalb der gesellschaftlichen Linken über Utopien und die Entwicklung radikaler emanzipatorischer Visionen
     Gruppe Utopie und Umbruch



Ob Gewerkschaften, Unternehmer, Diakonie oder politische Parteien: "Drohende soziale Explosion" und "sozialer Sprengstoff" werden von unterschiedlichen Interessengruppen tagtäglich medial beschworen. Der sprichwörtliche "heiße Herbst" wird nicht nur von Linken erwartet. Es gibt zwar hoffnungsvolle Anfänge, doch das Interesse an linken Sozialprotesten ist bisher bescheiden.

Menschen, die unter den hohen Preisen leiden, aber bisher nicht politisch organisiert sind, sind bislang kaum auf der Straße vertreten – und wenn, dann oft als rechte Bewegung wie in Sachsen. Dass sich dies mit Demonstrationen mit dürftigen Parolen wie "Tasche leer, Schnauze voll!", "Ebbe langt’s" oder "Protestieren statt Frieren", und "Löhne rauf, Profite runter" ändert, ist fraglich. Es könne doch nicht sein, dass Konzerne mit der Krise horrende Gewinne einstreichen und die Menschen dafür die Zeche zahlen sollen, heißt es etwa rein moralisch. Dass Kapitalismus schlichtweg so funktioniert, fällt unter den Tisch. Solche inhaltlich armen Parolen lassen sich durchaus auch von Rechten nutzen.

Schon bei Corona von "Zero-Covid" bis "Wir impfen euch alle" war auf der Linken die ganze Palette von Vorstellungen zur Eindämmung im Angebot. Die Thematisierung von und der Widerstand gegen Einschränkungen von Grundrechten aber wurden weitgehend der AfD und Konsorten überlassen. So können sich rechte Radikale scheinbar als die wahren Widerständler generieren. Und die nutzen ihre Chancen, die sie mit Angstpropaganda noch erhöhen. Klar scheint: Gesellschaftliche Unzufriedenheiten und Ungleichheiten führen auch diesmal nicht zum Erstarken linker Kräfte.

Während die Welt auf die Ukraine schaut, formiert sich weit entfernt ein viel größerer Konflikt: China und die USA sind im Indopazifik auf Kollisionskurs. Im Epizentrum der globalisierten Weltwirtschaft entscheidet sich, wer zukünftig tonangebend sein wird – der kapitalistisch-demokratische Westen oder das staatskapitalistisch-autokratische China

    Die Linke ist fragmentiert, "Die Linke" auf dem Weg zur Splitterpartei

In Bezug auf den Kampf gegen die Klimakrise dominieren indessen fragmentierte, politisch indifferente Protestverbünde, deren Strategie sich oft auf bloße Appelle an die Herrschenden konzentriert. Und die intern zerstrittene Partei Die Linke, die ein parlamentarischer Arm gesellschaftlichen Umbruchs sein könnte, ist nach den desaströsen Wahlergebnissen und fortwährenden inneren Konflikten in die Nähe einer Splitterpartei gerückt. Das Weiter-So dort wird noch verschärft, ihr Orientierungsvakuum infolge sich bekämpfender Fraktionierungen und eine zunehmend wachsende Sozialdemokratisierung droht die Partei in den Abgrund zu stoßen. Und daneben steckt etwa der Verbund der Interventionistischen Linken mitten in einer Zerreißprobe.

    Alles trostlos und düster?

Nicht ganz, denn es gibt ja nach wie vor eine Vielzahl von sehr aktiven, meist punktorientierten Gruppen, die gegen Mietsteigerungen, für bezahlbaren Wohnraum, gegen Klimakrise und Arbeitslosigkeit, für Unterstützung von Care-Arbeit und Flüchtende sowie gegen Rassismus, Faschismus und Sexismus kämpfen. Doch sind es über alles gesehen fragmentierte, verstreute, disparate und unkoordinierte Bewegungen, die kaum gemeinsam Projekte geschweige denn eine Gegenhegemonie entstehen lassen. Dies erleichtert ihre Überwältigung in der multiplen Krise. Was fehlt, sind Vorstellungen für soziale Umwälzungen. In dieser Situation und vor den anstehenden sozialen Auseinandersetzungen tut eine breite und offene Debatte darüber Not, was linke Gruppen sich an Alternativen vorstellen, ohne sich in kleinlichem Hickhack gegenseitig auseinanderzunehmen. Es fehlt die Diskussion von Utopien, ja auch zur Entwicklung radikaler Visionen. Erforderlich ist, kooperativ zu klären, ob es einen gemeinsamen Schirm für emanzipative Grundeinstellungen gibt, und wie der weitere Weg einer möglichen "Initiative für Sozialismus" aussehen soll: Können (öko-)sozialistische Modelle heute gesellschaftliche Anstöße zur Verwirklichung ihrer Vorschläge geben, oder wirken sie doch eher als Blockade von kollektiver Mobilisierung und Orientierung? Dazu gehört eine Verständigung darüber, ob Sozialismus, Kommunismus oder verwandte Konzepte "tote Hunde" sind, die nicht mehr als bloß eine abschreckende Vergangenheit darstellen. Diskussionswürdig ist, ob mit diesen desavouierten Kategorien noch etwas zu gewinnen ist – und warum.

    Wir wollen eine Debatte darüber anstoßen, was uns als Linke verbindet

Zu den Einwänden gehört, dass solche Konzepte selbst bei guten Argumenten zu affektiver Abwehr führen.

  • Muss es heute nicht um ganz andere Vergesellschaftungen als solche in sozialistischen Utopien gehen?
     
  • Und gibt es mit Krieg, Ausnahmezustand, gefährdeter Infrastruktur, überteuerter Existenzversorgung und Klima-Desaster nicht weitaus wichtigere Themen als eine Diskussion über Sozialismus?
     
  • Wichtig ist auch der Kampf gegen die rechte Regression mit der Entscheidung, ihn zusammen mit Liberalen zu führen oder nicht.
     
  • Oder haben diese scheinbar einzelnen Krisen eine gemeinsame Verstärkung erreicht, deren Auflösung nur mit großen Transformationen und entsprechenden Strategien adressiert werden kann?

Eine andere Gesellschaft, postkapitalistischer Umbruch, solidarische Lebensweisen, Postwachstum, Global Commons, "gutes Leben für alle": Zu klären ist, ob diese Bestrebungen mehr als moralische Appelle oder Optimierungen im Bestehenden bieten. Kommen sie über die Verfahrensweisen eines paternalistisch funktionierenden Sozialstaats hinaus, der mit seinem kapitalistischen Fundament schon einmal folgenreich scheiterte? Doch wie können echte transformatorische Konzepte vor diesem Hintergrund breite Anziehungskraft gewinnen? Vielleicht dann, wenn es gelingt, dem gemeinsamen Gefüge dieser Krisen und ihren Überwältigungen ein eigenes, emanzipatorisches Konzept mit Strategien gegenüberzustellen, die mit weiteren Alltagserfahrungen zusammengehen, und sie unter einem oppositionellen Schirm zusammenhalten?

Fragen über Fragen, wobei linke Bewegungen gerade auch ihre eigenen gesellschaftlichen Bedingungen, ihre Möglichkeiten und Grenzen stärker reflektieren müssen, die für kollektive Orientierung, Mobilisierung und Organisierung gesellschaftlichen Wandels maßgeblich sind. Und nicht zuletzt: Wie sollte sich ein sozialistisches politisches Projekt mit Hegemonieanspruch tatsächlich entfalten? Ist es beispielsweise als radikaler Reformismus umzusetzen, und wenn ja, wie? In der Literatur gibt es immerhin inzwischen deutlich mehr Versuche, diese zahlreichen Fragen zu beantworten.@

aus: freitag.de/autoren/gruppe-utopie-und-umbruch

 

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