Ist unser Job erledigt? Definitiv nicht! Schrittmacher gesellschaftlicher Veränderung von Michael Wilk www.aku-wiesbaden.info Die Abschaltung der letzten drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke in Lingen, Landshut/Isar und Neckarwestheim am 15. April 2023, ist ein Ergebnis unseres hartnäckigen Widerstands und ein Grund zur Freude. Aber es bedeutet nicht das Ende und den kompletten Ausstieg aus dem Atomgeschäft. Und damit auch nicht das Ende unserer Aufmerksamkeit und der Bereitschaft zu Protest und Widerstand. Die Atomfabriken in Gronau und Lingen sind weiter in Betrieb, eine Schließung ist nicht absehbar. Im Gegenteil die Produktion von Brennelementen und die Urananreicherung zur Versorgung internationaler ziviler und militärischer Atomwirtschaft soll sogar ausgebaut werden. Durch den Weiterbetrieb von Gronau und Lingen werden international Reaktoren am Laufen gehalten. Darüber hinaus sichert sich Deutschland die Option eigener Atomwaffenproduktion. Die Brennelementefabrik "ANF Lingen" ist im Besitz der französischen EdF-Tochter Framatome. Es besteht eine Kooperation mit dem russischen Atomkonzern Rosatom. Frankreich und Russland werden im Emsland nuklearen Brennstoff für Atomkraftwerke in aller Welt herstellen. Fast unnötig zu betonen, dass ausgerechnet der Atomsektor bei den aktuellen Sanktionen gegen Russland ausgenommen wurde. Atomare Strahlung kennt keine Grenzen. Und insofern geht es auch nicht nur noch um Lingen und Gronau. Wir sind gezwungen über den Tellerrand deutscher Abschalt-Erfolge hinauszublicken. Gerade in Frankreich setzt die Politik ungehemmt auf Atom, das Land hat seit Jahren den höchsten prozentualen Anteil an atomar erzeugtem Strom weltweit. Wenn sie denn laufen- die atomgetriebenen Generatoren, sei es aus Kühlwassermangel, oder weil sie marode sind. 17 französische Reaktoren feiern in den nächsten zehn Jahren ihren 50. Geburtstag. Im grenznahen Bure, nahe Nancy, wird an einem französischen sogenannten Endlager gearbeitet. Auch die immer wiederkehrenden Meldungen betreffs der AKW von Saporischschja in der Ukraine erinnern uns daran, welch eine massive Gefahr von AKW ausgeht, besonders in Kriegszonen. Was sicher ist, ist überall die Unsicherheit ... nicht nur in Bezug auf den Weiterbetrieb atomarer Anlagen im In- und Ausland, sondern vor allem auch in der Frage der weiter ungeklärten Lagerung atomaren Mülls. Weltweit ist bis heute kein sogenanntes Endlager für hochradioaktiven Atommüll in Funktion. In Deutschland diente über Jahrzehnte der politstrategisch als geeignet definierte Salzstock in Gorleben als Entsorgungsnachweis: Bedingung für den Weiterbetrieb der AKW, unsicher für die Einlagerung von Atommüll, sicher jedoch als Beleg für die menschengefährliche und verbrecherische Absurdität deutscher Politik! Es brauchte über 40 Jahre Protest und Widerstand, bis 2020 die inzwischen eingerichtete Bundesgesellschaft für Endlagerung den Standort als ungeeignet ausweisen musste. Das zur Zeit gültige Standortauswahlgesetz sah ein Standort-Ergebnis für ein Endlager bis 2031 vor, ein nicht umsetzbarer Termin. Auch der nun propagierte Termin 2068 erscheint utopisch. Das heißt: nicht nur wir, sondern tausende nachfolgende Generationen werden sich mit den Folgen verantwortungslosen politischen Handelns auseinandersetzen müssen. Atomare Altlasten, 1900 Castoren angefüllt mit über 10.000 Tonnen hochradioaktiven Mülls; dazu Unmengen mittel und schwachstrahlende Abfälle. Unübersehbar steigt der Druck der Lagerproblematik. Auslaufende Genehmigungen für die 16 Zwischenlager, fehlende Containments zur Reparatur von evtentuell undichten Castoren. Zwar wächst seit der Stilllegung der letzten AKW die Menge hochaktiven Mülls nicht mehr an, aber die Entsorgungsfrage ist weiterhin ungelöst. Die Situation gleicht immer noch einem Geisterfahrer in voller Fahrt bei dichtem Nebel! Was sich geändert hat ist die Rolle der Energiekonzerne, welche über Jahrzehnte nicht nur an der Erzeugung subventioniertem Atomstroms profitierten, sondern auch noch großzügig für den Ausstieg entschädigt wurden. In kapitalistischer Bilderbuchmanier ist für sie nicht nur der Drops hochprofitabel gelutscht, sie sind nicht nur raus aus dem Geschäft, sondern zudem der Verantwortung in Sachen Entsorgung und Lagerung des atomaren Gifts entledigt. Wenig verwunderlich, dass die Befürworter einer Laufzeitverlängerung in der aktuellen Debatte nicht auf RWE und Konsorten zählen konnten. Längst haben sich diese "ökologisch umetikettiert " anderen Profitquellen zugewandt. Das Bemühen um Akzeptanz Die Zuständigkeit für die Lösung des Atommüll-Desasters liegt nun beim Staat, die Kosten trägt die Allgemeinheit. Für die konkrete Bearbeitung des Problems wurde die Bundesgesellschaft für Endlagerung geschaffen. In der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Sachen Atomenergie vollzieht sich mit diesem Schritt in mehrfacher Hinsicht ein Paradigmenwechsel. Es geht nun nicht mehr um die möglichst schnelle Durchsetzung von Großprojekten im Sinne von Profitmaximierung, sondern um die notwendige Abwicklung einer potenziell tödlich-giftigen Hinterlassenschaft dieser Handlungsmaxime. Gleichzeitig zeichnet sich eine veränderte Strategie staatlichen Agierens in dieser Auseinandersetzung ab. Im Gegensatz zu oft praktiziertem autoritärem Herrschaftshandeln verspricht das breit verteilte (und zum Beispiel der ZEIT beigelegte) Pamphlet "Einblicke Das Magazin der Bundesgesellschaft für Endlagerung", nicht nur verantwortliches Handeln, sondern benennt ganz offen Probleme: Die Betriebsgenehmigungen der Zwischenlager seien begrenzt, liefen 2047 aus und müssten verlängert werden. Umweltministerin Lemke, B90/Die Grünen, spricht im gleichen Blatt von größtmöglicher Transparenz, Vertrauen und Glaubwürdigkeit in Sachen "Endlagersuche". Illustriert ist das Magazin mit einem Foto der Räumung des Hüttendorfes "Republik Freies Wendland" mit abgebildeter Demonstrantin und Atomkraft Nein Danke Symbol, sowie Zeichnungen "wie von Kinderhand", die unter anderem Castoren zeigen, die "ein neues Zuhause" suchen. Gesucht wird ganz offensichtlich der Schulterschluss mit kritischen Menschen, inklusive der anti-AKW-Bewegung: Der Widerstand gegen staatliche Willkür und Gewalt soll eine Sache von gestern sein, die geprügelten und kriminalisierten Protestierenden sind nunmehr die neuen Partner*innen in Sachen gemeinsamer Verantwortung. In den Vordergrund stellt die Bundesgesellschaft für Endlagerung BGE Vorstellungen von Kooperation und Mitbestimmung und folgt somit einer vertrauensbildenden Strategie. Notgedrungenermaßen. Denn bei den am Ende betroffenen Gemeinden wird die sich noch über viele Jahre ziehende Suche nach einem Standort für ein "Endlager" kaum auf Begeisterung stoßen. Zu befürchten ist eine ziemlich wahrscheinliche "not in my backyard"-Reaktion selbst bei grundsätzlicher Einsicht in die Notwendigkeit einer "definitiven" Lagerung. Da empfiehlt es sich, von Anfang an auf Umarmungs- und Einbindungsstrategie zu setzen. Konsequent vermeidet die BGE offene Konfrontation; sie bedient sich damit einer Durchsetzungsstrategie, die dem Ergebnis umfangreicher Forschung und Analyse gesellschaftlicher Auseinandersetzung bei Großprojekten wie Brokdorf, der Startbahn West und Wackersdorf Rechnung trägt. Strategische Einbindung*, Mediationen, Schlichtungen (Stuttgart 21) und Runde Tische sollen frühzeitig Protestbewegungen kanalisieren und spalten. Ministerin Lemke propagiert diesbezüglich "echte Beteiligung", nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen, "dass am Ende der Gesetzgeber, also der Deutsche Bundestag die Entscheidung trifft". "Was zu tun bleibt" fragt die aaa mit dieser Ausgabe. Auch wenn mit zunehmendem zeitlichen Abstand die Herausforderung immer größer wird, dies einer Mehrheitsgesellschaft zu vermitteln, die sich selbst gerne als unbeteiligt ansieht, bleibt auf Dauer die Aufgabe, eine Botschaft glaubhaft und nachvollziehbar zu kommunizieren: "Die Notwendigkeit eines möglichst sicheren Lagers für euer atomares Gift mag auf der Hand liegen. Aber wir sind die, die in Wyhl, Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben und anderswo den Kopf dafür hingehalten haben, dass das Problem gar nicht erst entsteht. Das soll mal nicht vergessen werden! Und eine Verlängerung von Laufzeiten haben wir nie akzeptiert. Als anti-AKW-Bewegung waren wir nicht und sind wir nicht die Partner*innen für euer Regierungshandeln!" Die Kampagne zur "Endlagersuche" operiert mit den Begrifflichkeiten Verantwortung, Transparenz, Offenheit und Vertrauen. Die freundlich anmutenden Worte offenbaren sich jedoch als zynisch, als Muster ohne Wert, wenn zur gleichen Zeit Waldbesetzungen zugunsten des Baus neuer Autobahnen geräumt, Proteste gegen Kohleverstromung polizeilich zerschlagen und Menschen wegen Straßenblockaden mit dem §129 kriminalisiert werden. Die anti-AKW-Bewegung hat viele Höhen und Tiefen erlebt. Sie hat es verstanden, sich der Kriminalisierung zu widersetzen. Sie ist zu einer sozialen Bewegung geworden, die erbittert, aber nie verbittert erfolgreich Widerstand geleistet hat. Sie hat eigene Formen der Organisierung entwickelt, unabhängig und kritisch gegenüber staatlicher Reglementierung. Wyhl, Wackersdorf und Gorleben stehen hier für verhinderte Projekte der Betreiber und für die Entwicklung einer einzigartigen Widerstandskultur. Andererseits gibt es auch erfolgreiche Versuche der Bestechung, der Wiedereinbindung ins parlamentarische Regularium der Macht. Auch Grüner Opportunismus und fatale Kompromissbereitschaft in Sachen Atom stehen für die Erfolge staatlicher Einbindungsstrategie. Hier ist nicht blindes Vertrauen, sondern kritische Distanz gefragt. Wir haben gelernt: vor allem der Druck der Straße ändert die Verhältnisse. So zeigen doch gerade die Auseinandersetzungen in Sachen "Atomenergie versus Ökologie" den Erfolg von Entschlossenheit gepaart mit beharrlicher Aktivität. Vor 48 Jahren, 1975 besetzten die Badischen Bürgerinitiativen gemeinsam mit vielen Menschen vom Kaiserstuhl und aus Freiburg, aber auch aus dem angrenzenden Elsass den Bauplatz des geplanten AKW Wyhl. Der Bau des AKW scheiterte letztlich am gemeinsamen, grenzüberschreitenden Widerstand der Bevölkerung. Es war ein zutiefst beeindruckender Erfolg und ein ansteckendes Beispiel selbstorganisierten Widerstands. Einen solchen internationalen Blick und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit brauchen wir auch heute wieder ebenso den engen Schulterschluss und die gemeinsamen Aktionen in der Klimaauseinandersetzung! Wir als soziale und ökologische Bewegung sind die Schrittmacher in Sachen gesellschaftlicher Perspektive. Wir richten uns nicht nach den Fünf Jahres Maximen der Legislaturperioden und nach politisch ökonomischer Tagespragmatik. Wir orientieren uns nicht nur an dem, was Recht ist, sondern an dem, was wir für richtig halten. Es geht in diesem Sinne nicht nur darum, gegen etwas zu sein, sondern wir sagen, wofür wir sind: Abschalten sofort ist notwendig, aber dabei lassen wir es nicht bewenden: Wir arbeiten an einem Umbau der Gesellschaft, in der Mensch und Natur zählt und nicht die Maximen der Ausbeutung, Vernutzung und Profitmaximierung. Wir werden uns als anti-AKW-Bewegung nicht abspalten lassen von der Klimabewegung. Viele von uns waren selbstverständlich in Lützerath und sagen ganz klar- wir sind eine Bewegung und untrennbar verbunden. Das betrifft auch den Versuch, unsere Bewegungen zu diskreditieren und zu kriminalisieren. Wer ist in diesem Land und in diesem Zusammenhang eigentlich kriminell? Die, die gegen Kohleverstromung oder gegen Atomkraftwerke protestieren oder die Betreiber und Energiekonzerne? Ich bezeichne den Betrieb von Atomanlagen schon lange als Körperverletzung. Eine Körperverletzung die staatlich bewacht, gefördert und gesetzlich abgesichert ist. Wer atomare Gifte produziert, die Risiken kleinredet, eine ungeklärte Entsorgung über tausende von Jahren Folgegenerationen aufbürdet- handelt kriminell. Nicht die Menschen, die auf die Straße gehen um diesem Treiben ein Ende zu setzen, nicht die Menschen die in Gorleben die Castoren blockierten und die Strecken lahmlegten, sind kriminell und gewalttätig sondern diejenigen, die die Methode "Profit ohne Skrupel" staatlich legitimieren und absegnen. Das gleiche gilt für den Betrieb von Kohlegruben oder deren Besetzung. Widerstand ist vielleicht nicht immer legal- aber er ist legitim und notwendig. Es liegt an uns den Druck aufrecht zu erhalten.@
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