Die neue Pro-Atom-Troika Monumentale Verdrängung von Achim Brunnengräber, Albert Denk, Lucas Schwarz, Dörte Themann Allen Warnungen vor möglichen Energie-Blackouts zum Trotz scheint die Bundesrepublik gut durch diesen bislang ausgesprochen milden Winter zu kommen. Doch damit ist die aktuelle Pro-Atom-Kampagne nicht beendet, im Gegenteil: Ganz offensichtlich soll die anhaltende Debatte um eine Verlängerung der AKW-Nutzung nur der Einstieg in eine neue Kernkraft-Ära sein. So fordert FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai ganz im Einklang mit der CDU/CSU ein "ideologiefreies, realitätsnahes und technologieoffenes Konzept", das eine Laufzeit über 2023 hinaus avisiert; und die AfD vertritt in ihrer "Resolution zur Kernenergie" sogar die Meinung, dass moderne Kraftwerke nicht nur die Natur- und Artenvielfalt schützen, sondern ressourcenschonend sind, unabhängig von Importen machen und nahezu CO2-neutral betrieben werden können. Dieser bemerkenswerte Schulterschluss zwischen Liberalen, Konservativen und Rechtsextremen findet nicht zum ersten Mal statt; erinnert sei etwa an die politische Debatte um das Tempolimit oder eine Vermögenssteuer. Auffällig diesmal: Jetzt werden von der neuen Pro-Atom-Troika dezidiert die Grünen und zwar auch vom eigenen Koalitionspartner FDP in die Zange genommen, weil "Atomkraft? Nein danke" gleichermaßen zur grünen Gründungsgeschichte wie zu ihrer Grundüberzeugung gehört. Für den fortgesetzten AKW-Betrieb führen FDP, Union und AfD vor allem zwei Argumente ins Feld: erstens die Versorgungssicherheit, die durch den russischen Angriffskrieg und die Beendigung der Gasversorgung gefährdet wird, und zweitens die in Deutschland stagnierenden CO2-Emissionen, die den Klimazielen zuwiderlaufen. Wie nämlich der Think-Tank Agora Energiewende in seiner Energiemarktanalyse für das Jahr 2022 ausweist, hat der Ersatz von Erdgas durch die besonders emissionsintensiven Energieträger Kohle und Öl dem Erreichen der Klimaschutzziele einen Strich durch die Rechnung gemacht. Unterschlagen werden bei der parteiübergreifenden Atomeuphorie allerdings fünf entscheidende Argumente dagegen. Erstens wird von Atom-Propagandisten die dramatische Umweltschädlichkeit der Atomkraft bagatellisiert. Wenn etwa Lindner die Atomkraft gegenüber Kohlekraftwerken bevorzugt und damit auf Deutschlands CO2-Bilanz hinweist, unterschlägt er den nuklearen Produktionszyklus vom Uranabbau bis zur Endlagerung der hochradioaktiven Abfälle: Atomkraft ist nicht klimaneutral. Hinzu kommt der enorm energieintensive Transport entlang der gesamten Produktionskette. Deutschlands Bürger:innen sind vor allem die am Ende des Produktzyklus liegenden Castortransporte im Bewusstsein, die von zivilgesellschaftlichem Widerstand begleitet wurden. Dem vorausgegangen ist eine "Weltreise" des Urans von den Abbaustätten über Fabriken für die Herstellung der Brennstäbe und Aufbereitungsanlagen bis zu den AKW und den Zwischenlagern. Über Umweltschäden beim Bau der Infrastruktur für das Endlager (Umverpackungsanlage, Eingangs- und Tiefenlager, Beton- und Stahlverbrauch) kann bereits spekuliert werden. Schwerwiegend kommen die massiven sozialen und ökologischen Schäden durch den Uranabbau in den Ländern des Globalen Südens (unter anderen Brasilien, Namibia, Kasachstan) und in Siedlungskolonien hinzu (unter anderen USA, Australien, Kanada). Dieser folgt einer "imperialen Lebensweise" und postkolonialen Logik der Ausbeutung, Naturzerstörung und des Umweltrassismus. Für in Deutschland erzeugten Atomstrom wurden zuvor indigene Völker vertrieben und CO2-speichernde Wälder brandgerodet. Biodiversität geht verloren und der Lebensraum von Menschen wie von Tieren wird durch stark kontaminierte Bergbaurückstände wie Abraum und Sickerwässer verseucht. Zweitens unterschlagen die drei Pro-AKW-Parteien, dass die Nutzung von Energie aus Kernspaltung massiv ausbeuterisch ist. Zum faktischen Ressourcenkolonialismus gehört neben der Vertreibung von Menschen auch, dass indigene Völker ohne Aufklärung in den gesundheitsschädigenden und gefährlichen Uranabbau gezwungen wurden. Sozial- und Umweltstandards werden dabei zumeist nicht eingehalten: Das enorme Lohngefälle zwischen einem namibischen Minenarbeiter und einem RWE-Mitarbeiter im AKW Emsland ist nur ein Beispiel für die sozialen Ungerechtigkeiten innerhalb ein und derselben Wertschöpfungskette.
Die gesundheitlichen Folgen sind massiv und langwierig. So wurde in einer Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) das erhöhte Risiko einer Lungenkrebserkrankung durch Radon für Bergarbeiter:innen nachgewiesen. Des Weiteren wird einer Vielzahl an nachfolgenden Generationen durch den angefallenen Atommüll ein Risiko übergeben, das laut Gesetzgeber für eine Million Jahre bestehen wird. Anzunehmen ist, dass eine ganze Reihe an Problemverkettungen auftreten wird; sie sind im Umgang mit hochradioaktiven Materialien nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Belastungen der Menschen in der Region wie der Arbeiter:innen im unmittelbaren Nahbereich der Entsorgungsarbeiten sind unvermeidbar. Dies belegen u.a. Untersuchungen aus dem Umfeld der Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague (Frankreich): Obwohl diese vom Betreiber als sicher dargestellt wird, stellten Viel et al. eine Häufung von Leukämiefällen fest. Drittens wird von den Parteispitzen ignoriert, dass die Technologie weiter hochriskant ist: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) wird damit begründet, dass es menschliches Versagen in einem AKW russischer Bauart war; in Fukushima (2011) kam es "nur" infolge eines natürlichen Tsunami, mit dem nicht gerechnet wurde, zum Super-GAU. Das Ungewisse und Unvorhersehbare ist der Grund, weshalb die Menschen in unmittelbarer Umgebung eines AKW und weit darüber hinaus unter einem Damoklesschwert leben. Merz behauptet, die deutschen AKW gehörten zu den sichersten der Welt. Dabei suggeriert er eine Sicherheit, die immer im Verhältnis zu anderen AKW und deren Stand der Technik betrachtet werden muss das ist jedoch keine Aussage über die absolute Sicherheit. In Deutschland beträgt das Durchschnittsalter der Kraftwerke, Stand 2022, 34 Jahre. Laut Atomgesetz müssen die AKW alle zehn Jahre eine sogenannte Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) durchlaufen, die aber bei den drei verbliebenen Reaktoren (Laufzeit bis 15. April 2023) nun schon mehr als 13 Jahre zurückliegt. Insgesamt wurden bei den drei Reaktoren 407 meldepflichtige Ereignisse registriert, das heißt, sicherheitstechnisch relevante Ereignisse, die potenziell auch Strahlenaustritte umfassen. Im Übrigen gibt es weltweit keinen Versicherungsdienstleister für AKW. In Deutschland haften im Schadensfall die Kraftwerksbetreiber mit bis zu 2,5 Mrd. Euro. Alle darüber hinaus anfallenden Kosten übernimmt der Staat und somit die Steuerzahler:innen. Viertens sind AKW, aber auch Zwischenlager oder Brennelementefabriken besonders exponiert und damit in hohem Maße geeignet, im Krieg als Gewaltmittel eingesetzt zu werden. Im Kriegsfall sind AKW von gleich doppelter strategischer Bedeutung, wie derzeit der Ukrainekrieg zeigt: Einerseits kann durch einen Angriff die Stromversorgung unterbrochen werden. Andererseits kann ein AKW auch direkt zum Angriffsziel werden. In beiden Fällen ist ein Super-GAU möglich. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat das in Europa vermeintlich Undenkbare zur möglichen Realität werden lassen, wenngleich das Völkerrecht hier die Genfer Konvention, Zusatzprotokoll vom 12. August 1949, Art 56, Abs. 1 (1) , vorsieht, dass solche Anlagen nicht angegriffen und schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung nicht riskiert werden dürfen. Derartige Angriffe auf AKW und die Infrastruktur können aber nicht nur von autokratischen Regimen ausgehen. Nicht minder gefährlich und ungeachtet der derzeitigen Ruhe nicht zu vergessen sind mögliche terroristische Anschläge, die alle Nuklearbauten zum Ziel haben können.
Und schließlich fünftens werden von den Befürworter:innen der Atomkraft die völlig ungelösten Probleme bei der Entsorgung unterschlagen. Bis heute ist auf der ganzen Welt noch kein Endlager für die hochradioaktiven Atomabfälle in Betrieb. In Deutschland wurde den Betreibern für die Betriebserlaubnis ihrer AKW sogar eine gesetzliche Nachweispflicht für ein Endlager auferlegt, wofür die Betreiber stets Gorleben instrumentalisierten. Doch nach über vier Jahrzehnten des zivilen Ungehorsams und der ehrenamtlichen Aufklärungsarbeit engagierter Bürger:innen wurde Gorleben schließlich aufgegeben, nachdem die Bundesgesellschaft für Endlagerung den Standort im Zwischenbericht Teilgebiete im September 2020 nach intensiven Überprüfungen als ungeeignet ausgewiesen hatte. Nach dem Standortauswahlgesetz (StandAG 2017) sollte eigentlich bis 2031 ein Standort für ein Endlager gefunden werden, doch nun soll sich die Suche bis ins Jahr 2068 ziehen. Folglich werden die Genehmigungen der obertägigen Zwischenlager auslaufen, lange bevor ein Endlager gebaut sein wird. Damit wird den Standortgemeinden der 16 Zwischenlager ein weit in die Zukunft reichendes Risiko überantwortet. Politisch wird dieses Problem mit Erzählungen über eine wissenschaftlich-technologische Revolution zu verharmlosen versucht: Neue Reaktortypen sollen die Atomabfälle angeblich recyceln können. Doch laut einer Studie des Öko-Instituts von 2022, die vom Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung in Auftrag gegeben wurde, ist weder deren Machbarkeit wissenschaftlich erwiesen noch könnte eine Recyclingtechnologie in den nächsten Jahrzehnten industrielle Reife erlangen. Auch würde dies ein Endlager nicht überflüssig machen. Insofern wird die Entsorgung letztlich mehr als ein Jahrhundert in Anspruch nehmen, und sie ist genau wie die Nutzung mit erheblichen finanziellen, sozialen und ökologischen Ungewissheiten behaftet. Berücksichtigt man diese fünf entscheidenden Faktoren, erkennt man die wahren Gründe für den Rückgang der Atomkraft. Tatsächlich befindet sich der AKW-Bestand nicht nur in Deutschland, sondern weltweit längst auf dem absteigenden Ast. Mitte 2022 waren in 33 Ländern 411 AKW am Netz, vier weniger als 2021 und 27 weniger als 2002, dem Jahr mit dem Höchststand. Neubauvorhaben in Europa sind ein wirtschaftliches und politisches Desaster, vor allem für die Staaten, die bei AKW-Neubauten der Nuklearindustrie mit hohen Subventionen unter die Arme greifen: In Finnland (Olkiluoto 3), Frankreich (Flamanville) oder Großbritannien (Hinkley Point C) hinkt die Fertigstellung dem Zeitplan um viele Jahre hinterher, die Kosten explodieren von niedrigen einstelligen auf zweistellige Milliardenbeträge. Folglich gehen mit Ausnahme Chinas mehr AKW vom Netz als neue in Betrieb. Allerdings muss dieser Trend, und hierin besteht die Gefahr für den Ausbau der erneuerbaren Energien, nicht anhalten. Sie besteht darin, dass Gelder in den alten AKW-Bestand und die Atomforschung fließen und nicht in die Erforschung und Entwicklung von nachhaltigen Energieformen. Vor allem Frankreich will seinen AKW-Bestand für die Zukunft nachrüsten, dafür sind erhebliche Finanzmittel erforderlich. Ohne staatliche Subventionen und billige Kredite sind AKW ein privatwirtschaftliches Risiko, weshalb insbesondere auch Paris daran interessiert war, dass im Rahmen der EU-Taxonomie die Atomkraft als nachhaltige Energiequelle eingestuft wurde. Doch Frankreich ist innerhalb der EU nicht das einzige Land, das weiterhin auf Atomkraft setzt. Auch Finnland, Schweden, die Niederlande und Belgien besitzen uralte Reaktoren, die bereits vierzig Jahre und länger am Netz sind und zum Teil noch länger laufen sollen. Zu den desaströsen alten AKW-Nutzern will sich nun auch Polen mit dem Bau von mehreren neuen AKW gesellen. Dem Klimaschutz bringt das rein gar nichts; dafür werden stetig neue und globale Ungerechtigkeiten, Gefahren, Risiken und Ungewissheiten im Umgang mit den hochradioaktiven Abfällen erzeugt. Und dennoch ist auch in Deutschland der Ausstieg noch immer keine besiegelte Sache. "Atomkraft? Nein danke" versus "Atomkraft? Ja bitte" bleibt so bis auf weiteres ein hoch umkämpftes Terrain in der politischen Auseinandersetzung dafür wird die neue Pro-Atom-Troika mit Sicherheit sorgen.@ Aus: »Blätter« im Februar 2023 |
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