Vor einem Engagement gegen Waffenlieferungen muss tatkräftige Anteilnahme am Schicksal der Angegriffenen stehen.
Aber dann ist es dringend erforderlich.


Weder auf Putins Seite noch auf der der NATO

von Raul Zelik

Schlägt man in diesen Tagen die Zeitungen auf, traut man seinen Augen kaum. Während die Grünen – 2021 immerhin mit dem Versprechen angetreten, Rüstungsexporte zu stoppen – mittlerweile eine Kriegswirtschaft aufbauen wollen, haben die Rechtsextremen von der AfD pazifistische Kreide gefressen. Waffenlieferungen würden nur das Leiden verlängern, verkünden jene, die bislang noch für jeden (deutschen) Eroberungskrieg der Vergangenheit Verständnis aufbrachten. Dass die Linkspartei in dieser Gemengelage kaum wahrzunehmen ist, liegt auch daran, dass es zu diesem Krieg keine einfache Position gibt: Alle "realpolitischen" Lösungen sind katastrophal. Wenn Russland die Ukraine militärisch unterwirft, ist das eine Einladung an alle imperialistischen Projekte gegen Nachbarländer.

Wenn die NATO hingegen hochmoderne Waffen liefert, um den Kollaps der Ukraine zu verhindern, hält das einen Abnutzungskrieg in Gang, an dessen Ende im besten Fall Hunderttausende, im schlechtesten Milliarden Menschen tot sind. Man darf sich nichts vormachen – beide Optionen sind Teil desselben Prozesses: Der nationalstaatlich organisierte globale Kapitalismus hat den Selbstzerstörungsmodus aktiviert. Wie kann eine Linke damit umgehen? Die erste Aufgabe besteht wohl darin, sich zu vergegenwärtigen, wem ihre Empathie gelten muss – nämlich nicht den Nationalstaaten, sondern denjenigen, die unter dem russischen Überfall leiden: der Bevölkerung in zerschossenen ukrainischen Ortschaften, den geflohenen Kindern, zwangsrekrutierten Soldaten auf beiden Seiten der Front.

Wenn man sich das in Erinnerung ruft, wird deutlich, was Linke im Moment nicht vertreten sollten. Es kann nicht darum gehen, "den Krieg zu verhindern", denn Millionen erleiden diesen Krieg bereits. Nicht irgendwelche "legitimen Sicherheitsbedürfnisse" Russlands, sondern die Schicksale derer, die in der Ostukraine heute in Kellern ausharren, müssen Ausgangspunkt der Debatte sein. Nicht der geopolitische Vortrag zur Weltlage ist gefragt, sondern Solidarität: Geflüchtete aufnehmen, Lebensmittel und Medikamente schicken, Deserteure verstecken, Oppositionelle in Russland und der Ukraine befragen!

Erst, wenn man sich darum bemüht, kann man den Waffenlieferungen aus NATO- Staaten glaubwürdig widersprechen. Denn das bleibt unverzichtbar, Linke sollten sich dieser Eskalation durch ihre Regierungen entschieden widersetzen, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens, die sogenannte Zeitenwende ist ein militaristisches Konversionsprogramm. Rüstungskonzerne gelten auf einmal als ganz normale Wirtschaftsunternehmen, NATO-Strukturen, die in den vergangenen 70 Jahren noch für jede Diktatur im eigenen ökonomischen Interesse aktiviert wurden, werden als friedensstiftend fantasiert. Auf diese Weise werden die reaktionärsten, aggressivsten und zerstörerischsten Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft gestärkt. Nichts ist in Anbetracht dessen so wichtig wie ein Nein zu Aufrüstung und militärischer Mobilmachung. Im Übrigen sind imperialistische Besatzungsmächte im 20. und frühen 21. Jahrhundert – sei es in Algerien, Vietnam, im Irak oder in Afghanistan – nicht durch Panzer, Flugzeuge und schwere Waffen, sondern durch den (sehr wohl auch bewaffneten) Widerstand der Bevölkerung besiegt worden.

Zweitens, ja, es stimmt vermutlich, der russischen Führung geht es in der Ukraine nicht vorrangig um die NATO, sondern darum, sich durch Krieg jenes geopolitische Gewicht zu verschaffen, das man wirtschaftlich nicht mehr besitzt. Und sie will verhindern, dass sich ein einigermaßen funktionierendes bürgerliches System etabliert, das auch in Russland als Alternative betrachtet werden könnte. Aber wahr ist bei alldem eben auch, dass sich über den Verteidigungskampf der Ukraine ein zweiter, anders gelagerter Krieg legt: Der atlantische Westen finanziert einen Abnutzungskrieg, in dem sich Russland verbrauchen und China als Verbündeter ausgeschaltet werden soll. Ein Krieg im Pazifik ist für die US-Führung eine ganz rationale Option. Anders ausgedrückt: Die Ukrainer verteidigen ihr Leben, die westlichen Staatenlenker verfolgen ihre eigenen geostrategischen Projekte.

Drittens, in diesem Krieg gibt es nur zwei Optionen: Entweder er eskaliert oder er wird durch Verhandlungen eingefroren. Dass die Interessen Russlands mit dem Völkerrecht unvereinbar sind und es dementsprechend wenig Grundlage für Verhandlungen gibt, ist ein berechtigter Einwand. Nur: Das stimmt für fast alle bewaffneten Konflikte. Das Einfrieren von Kriegen sorgt immerhin dafür, das Sterben zu begrenzen und eine Eskalation zu verhindern. Auch in Vietnam wurde mit dem Aggressor verhandelt, um ihn am Ende politisch zu besiegen.

Ob der Widerstand gegen Aufrüstung und Waffenlieferungen der Linkspartei wieder auf die Beine hilft, sei dahingestellt. Dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung mit der Lieferung von Kampfpanzern nicht einverstanden ist, darf nicht das entscheidende Argument sein. Bevölkerungsmehrheiten können sich irren. Aber eine Linke, die ihre fünf Sinne beisammenhat, sollte wissen, wo sie steht – weder auf der Seite Wladimir Putins noch auf der der NATO.@

Aus: der Freitag, 2. Februar 2023

 

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