Die Gefahr eines Atomkriegs ist so groß
wie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr


Gefangen in der Eskalationsspirale

von Tomasz Konicz

Inzwischen dürfte sogar dem letzten deutschen Putin-Troll dämmern, dass der Angriffskrieg des Kremls in der Ukraine nicht nach Plan verläuft. Bestes Indiz dafür ist die Annexion der vier ukrainischen Oblaste Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson durch Russland, die gerade in Reaktion auf eine dramatische Niederlage russischer Truppen Mitte September östlich von Charkiw erfolgte. Mit der Teilmobilmachung von – vorerst – 300.000 Reservisten und der Einverleibung der vier ost- und südukrainischen Regionen entschied sich der Kreml für die weitere Eskalation. Verschärft wurde diese mit heftigen russischen Raketenangriffen auf Energieinfrastruktur und zivile Ziele in der gesamten Ukraine, einschließlich der Hauptstadt Kiew, nachdem es eine Explosion auf der strategisch wichtigen Brücke gegeben hatte, die Russland mit der 2014 annektierten Halbinsel verbindet.

Die jetzige Annexion der vier Gebiete wurde durch mehrere Faktoren motiviert. Zum einen wird damit eine Anpassung der Kriegsziele vorgenommen, die einerseits massiv zurückgeschraubt werden, um sie andererseits jeglichen Verhandlungen zu entziehen. Es sind Mindestziele Putins, die nicht mehr Verhandlungsgegenstand sein sollen – zugleich ist weniger die Rede davon, in der Ukraine einen Regime Change oder Ähnliches vorzunehmen. Der Kreml muss seine imperialen Ambitionen, die noch vor wenigen Monaten die Ukraine als Teil Russlands begriffen, an die militärischen Realitäten anpassen, um zugleich die russische Rechte, die imperialistischen und nationalistischen Hardliner zu befriedigen, die beständig auf eine weitere Kriegsverschärfung drängen. Putin ist im bisherigen Kriegsverlauf nicht von liberalen, sondern von den rechten Kräften unter Druck gesetzt worden, die schon seit Monaten die totale Mobilmachung und die uneingeschränkte Kriegsführung fordern.

Mit der Annexion – die mit Verhandlungsangeboten an Kiew einherging – signalisiert der Kreml dem Westen nicht nur, was er als Mindestbeute aus seinem imperialen Abenteuer mitzunehmen gedenkt, er macht damit auch den Weg in den Atomkrieg, in die finale Eskalationsstufe frei. Seit Anfang Oktober sieht der Kreml die einverleibten ukrainischen Regionen als Teil Russlands an, und die russische Militärdoktrin sieht den Einsatz von Atomwaffen zur Landesverteidigung auch gegen konventionelle Streitkräfte vor. Die Gefahr eines Atomkrieges ist derzeit so hoch wie noch nie seit dem Ende des Kalten Krieges, gerade weil der Kreml in seinem imperialen Größenwahn die militärischen Möglichkeiten der russischen Armee überschätzt hat und diese weiterhin kaum in der Lage ist, die Front im Osten und Süden der Ukraine zu stabilisieren.

Spätestens seit der Teilmobilmachung, die ja ebenfalls ein Eingeständnis der Schwäche russischer Streitkräfte ist, steht im Krieg auch das politische – letztendlich auch das physische – Überleben Wladimir Putins auf dem Spiel. Autoritäre Regime fördern die Apathie, die Gleichgültigkeit der Bevölkerung zwecks Herrschaftsabsicherung, weshalb Putin sich sehr lange gegen die Mobilmachung wehrte, da diese zwangsläufig Russland politisieren wird. Ohne imperiale Gewinne kann Putin den Krieg nicht beenden und politisch überleben, da die Teilmobilmachung schon jetzt – noch vor den zu erwartenden hohen Verlusten unter den Reservisten – die staatsoligarchische, kleptokratische Herrschaftsstruktur in Russland destabilisiert, wie an dessen Grenzen derzeit offensichtlich wird, über die Zehntausende das Land verlassen. Putin braucht somit den Sieg in seinem imperialen Krieg, ohne ihn erringen zu können. Die Flucht des Kremls in den Atomschlag, der ja beständig angedroht wird, scheint angesichts dieser machtpolitischen Sackgasse des Kreml durchaus möglich. Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch die marode russische Militärmaschinerie würde bei einem Vordringen ukrainischer Einheiten auf die Krim oder auf die bereits während des Bürgerkrieges 2014 abgespaltenen östlichen Regionen sogar wahrscheinlich.

    Instrumentalisierung
    der Systemkrise

Für die Ukraine bedeutet die Teilmobilmachung und die Annexion durch Russland, dass nun alles auf die militärische Eskalation gesetzt werden muss. Kiew treibt die bislang erfolgreich verlaufenden Offensiven im Osten und im Süden der Ukraine mit allen Kräften voran, um – allen Verlusten zum Trotz – das Zeitfenster zu nutzen, das der durch den Westen ausgerüsteten und modernisierten Armee bleibt, bevor die russische Teilmobilmachung sich an der Front materialisiert. Die putinsche Annexion wird durch das Unvermögen Russlands, diese »neuen« Gebiete militärisch zu halten, substanzlos, was zugleich zur Destabilisierung der »Machtvertikale« um Putin beitragen soll. Deswegen reagierte Kiew auf die Verhandlungsangebote Putins mit einem Erlass, der Verhandlungen kategorisch ausschließt, solange Putin Präsident ist. Damit sollen Palastrevolten gefördert werden.

Inzwischen scheint nicht nur Kiew, sondern auch Washington auf eben den Regime Change in Moskau zu setzen, den Putin mit seiner Invasion eigentlich in der Ukraine bewirken wollte. Der Einsatz bei diesem krisenimperialistischen »Great Game« um die Ukraine wird immer höher, die Kriegsparteien haben immer mehr zu verlieren, was wiederum eine Deeskalation immer schwerer macht. Die Sprengung der Nordsee-Pipeline, die insbesondere den ehemaligen mittelosteuropäischen Transitländern und den USA ein Dorn im Auge war, illustriert die auf allen Seiten vorhandene Eskalationsbereitschaft. Mitunter werden dabei Krisentendenzen, staatliche Erosion und Staatszerfall bewusst gefördert: Die ukrainische Rechte sieht im Zerfall Russlands ein strategisches Ziel. Ähnliche Überlegungen gibt es in westlichen Denkfabriken, wo eventuell noch darüber debattiert wird, ob Putin noch als »Ordnungsfaktor« gebraucht würde. Russland wiederum bemüht sich nicht gänzlich erfolglos, durch seinen Wirtschaftskrieg Westeuropa im kommenden Winter in die Knie zu zwingen. Die kapitalistische Systemkrise wird von allen Kriegsparteien gewissermaßen instrumentalisiert.

    Präapokalyptische Konfliktkonstellation

Somit steht auch für den Westen die politische Stabilität angesichts zunehmender ökonomischer Verwerfungen auf dem Spiel. Dies gilt nicht nur in Deutschland, wo die Neue Rechte Morgenluft wittert und die Querfront von Teilen der Linkspartei bis AfD bereits gemeinsam, etwa in Brandenburg an der Havel, für russisches Erdgas marschiert. Die zunehmende Inflation, eine abermals drohende Weltfinanzkrise, die Rezession – das sind die ganz konkreten inneren Krisenwidersprüche, die auch den Westen in die Konfrontation treiben. Die unnachgiebige, auf Eskalation setzende Haltung Washingtons und Berlins gegenüber dem Imperialisten Putin, die mit ihrem laissez faire gegenüber den blutigen imperialen Abenteuern des westlichen Bündnispartners Erdogan kontrastiert, wird von derselben krisenimperialistischen Logik angetrieben, wie in Russlands bröckelnder »Machtvertikale«. Die innere Krise soll durch äußere Expansion überbrückt werden: Der schwindsüchtige Dollar soll als Weltleitwährung um buchstäblich jeden Preis verteidigt, der Zugriff auf Rohstoffe und Energieträger, den Moskau als ökonomische Waffe einsetzt, wiederhergestellt werden – notfalls durch Regime Change und Staatszerfall.

Es gibt für viele maßgebliche Konfliktparteien kaum noch ein Zurück aus der Eskalationsspirale. Anfang Oktober warnte Moskau den Westen vor einer »direkten Konfrontation«, sollten die jüngst beschlossenen, abermaligen Waffenlieferungen an Kiew umgesetzt werden. Ein distanzierter Blick auf diesen krisenimperialistischen Krieg lässt eine präapokalyptische Konfliktkonstellation erkennen. Während das Kapital an seinen inneren und äußeren Widersprüchen zerbricht, während Klima- und die Wirtschaftskrise eskalieren, drohen die kriselnden spätkapitalistischen Staatsmonster, getrieben von diesen Widersprüchen, übereinander herzufallen – bis zur Entladung des Selbstvernichtungsdrangs des Kapitals im atomaren Schlagabtausch.@

aus: ak 686 vom 18. Oktober 2022

 

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