Ein Plädoyer für Solidarität mit Menschen in Not und gegen die Instrumentalisierung von Mitgefühl und Anteilnahmne

Transformation statt Eskalation

von der aaa-Redaktion

"Ach – könntet ihr uns doch hören! Soldaten, beendet das Morden!" heißt es im Aufruf, mit dem unser antimilitaristisches Bündnis Wendland Samstag für Samstag zur wöchentlichen Kundgebung gegen Krieg und Aufrüstung mobilisiert hat. "In Europa herrscht Krieg. Raketen werden abgefeuert, Panzer in Bewegung gesetzt, Bomben abgeworfen. Soldaten morden. Sie zerstören Gebäude und Versorgungseinrichtungen, vernichten Lebensmittel, töten Menschen. Hier spitzt sich zu und wird auf grausame Weise konkret, was struktuell angelegt ist in der herrschenden Weltwirtschaftsordnung - in der Konkurrenz um politische und wirtschaftliche Macht, um den Zugriff auf Ressourcen und Absatzmärkte."

Anliegen unserer letzten Ausgabe war es, die Dringlichkeit einer umfassenden Transformation vor Augen zu führen; angesichts der Ballung von Krisen wie Klimakatastrophe, Verlust an Biodiversität, Pandemie, weltweitem Hunger und Armut ist es allerhöchste Zeit, eine grundlegende Umwälzung des Wirtschaftssystems in Gang zu setzen. Andernfalls – so die Autor*innen der aaa 297 – sei der Sturz in die Barbarbei unvermeidlich. Jetzt, zwei Monate später, drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt noch ein Halten gibt auf der schiefen Bahn. Der Militarisierung, die uns seit Jahren Sorgen bereitet, hat der Überfall russischer Truppen auf die Ukraine eine unheilvolle Dynamik verliehen.

Täglich haben wir die Bilder vor Augen von fürchterlichen Zerstörungen und Menschen in Angst und höchster Not. Und heute, am Samstag vor Ostern, an dem dieser letzte Artikel dieser Zeitung entsteht, ist es alles andere als klar, welche Steigerung das Grauen der Kriegshandlungen noch genommen haben wird, bis das fertige Heft bei den Leser*innen ankommt. Medien jeder Art beliefern uns mit militärischer Expertise in allen erdenklichen Varianten, die für die kommenden Tage weitere Eskalationen des Schreckens prognostizieren. Der Gebanntheit, mit dem die Öffentlichkeit die Entwicklung verfolgt, können wir uns kaum entziehen.

Dieser Krieg bekommt die Aufmerksamkeit, die eigentlich jeder Krieg verdient. Er löst die Anteilnahme aus, auf die schon die Menschen in Kobane und Afrin, in Aleppo und Saana, in Belgrad und Novi Sad und ... hätten hoffen dürfen. Die große Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland und anderen europäischen Staaten ist wirklich ein großer Lichtblick und lässt hoffen. Die politischen Folgerungen aus diesem Kriegsgeschehen aber und die momentane mediale Stimmungsmache sind empörend. Das berechtigte Mitgefühl und die Bereitschaft, sich solidarisch zu zeigen, wird instrumentalisiert für eine Politik der Konfrontation und der militärischen Stärke.

Neu ist diese Politik nicht. Vor zehn Jahren erarbeitete unter der Federführung der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und des German Marshall Fund of the United States (GMF) ein breit angelegter Querschnitt des Berliner Politikbetriebs ein Grundlagenpapier unter dem Titel "Neue Macht - neue Verantwortung". Der Kernsatz lautet: "Deutsche Außenpolitik wird sich weiterhin der gesamten Palette der außenpolitischen Instrumente bedienen, von der Diplomatie über die Entwicklungs- und Kulturpolitik bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt." Was sich hier liest wie eine nüchterne Feststellung, das veranschaulicht, wie falsch sie reden, wenn Kanzler und Außenministerin die Angriffsentscheidung des russischen Präsidenten als "Bruch all ihrer Werte" geißeln und daraus ihre Maßnahmen ableiten.

Der Befehl von Wladimir Putin zum Angriff auf die Ukraine ist unvereinbar mit unserer Vorstellung von einem guten Leben für alle in Würde und Freiheit. Jede Einzelheit der Folgen dieser Entscheidung ist zu verurteilen, das sei hier noch einmal festgehalten. Einen deutlichen Unterschied gilt es aber zu machen, wenn Funktionsträger*innen wie Olaf Scholz oder Anna-Lena Baerbock die Verteidigung von Werten für sich reklamieren. (Es sei denn, sie definieren "Wert" ausdrücklich rein ökonomisch.) Wer für die Übernahme ihres/seines Amts als selbstverständlich akzeptiert hat, dass die Bereitschaft zu ebensolchen Entscheidungen die Voraussetzung ist, der/dem steht es nicht zu, sich moralisch zu erheben. Schon gar nicht soll das berechtigte Gefühl der Empörung herangezogen werden zur Legitimation eines politischen Handelns, das einer Logik des Rechts des Stärkeren folgt.

bis zum Einsatz
militärischer Gewalt

Seit Jahren ziehen führende deutsche Politiker*innen durch Europa und die Welt und werben für den Gedanken, dass für die Sicherung der Transportwege, den ungehinderten Zugriff auf Ressourcen und allgemein gesprochen für die Aufrechterhaltung "unseres Wohlstands" Krieg immer eine mitgedachte Option sein muss. Dafür sei es erforderlich, die notwendigen Mittel bereitzustellen. (Bei den Koalitionsverhandlungen war die finanzielle Ausstattung der nun eingeleiteten "Zeitenwende" bereits ausgekungelt worden.)

Diese Haltung war keineswegs nur ein Thema für irgendwelche Hinterstübchen; Frau Merkel, Frau von der Leyen, Herr Steinmeier brachten sie prominent in Brüssel, Genf, Davos ... auf die Tagesordnung. Wobei natürlich die Formulierung "Einsatz militärischer Gewalt" nicht die Bilder hervorruft, die uns aktuell aus Mariupol erreichen.

Zumindest, solange diese militärische Gewalt nur irgendwo am Horn von Afrika eingesetzt wurde oder vielleicht am Hindukusch, solange war für die deutsche Medienlandschaft die Vermittlung von Anteilnahme allenfalls von untergeordneter Bedeutung. Wenn beispielsweise Bundespräsident Joachim Gauck 2014 bei der Sicherheitskonferenz in München das "Ende der Zurückhaltung" forderte, dann war die Berichterstattung über die militärischen Ambitionen Deutschlands oder der EU verknüpft mit der distanzierten Vorstellung von "Operationen", vorzugsweise in chirurgischer Präzision. Ereignisse wie in Kunduz fünf Jahre zuvor, wo 91 Zivilist*innen Opfer einer fehlgeleiteten Bombardierung wurden, dienten bislang eher als Ausnahme, die eine Regel vom sauberen Krieg zu bestätigen in der Lage wäre.

Was Unsinn ist. Wir brauchen nur die Bücher aufzuschlagen mit den Schilderungen irgend eines Kriegs, um zu sehen, dass dem Kampfgeschehen die Verrohung mit Sicherheit folgt. Das Verbrechen des Kriegs ist ohne Kriegsverbrechen nicht vorstellbar. Es ist völlig richtig, fassungslos zu sein beim Anblick getöteter Menschen; es ist richtig, mitzuleiden, wenn Menschen ihr Zuhause zerstört wird oder wenn sie wochenlang ohne sauberes Wasser und Nahrungsmittel eingekesselt und beschossen werden. Politiker*innen aber, die genau solche Situationen als Option der eigenen Politik beschließen und vorbereiten, müssen schon massiv abspalten, wenn sie sich angesichts solcher Bilder empören.

Das tun sie gerade. Reihenweise. Und werden darin unterstützt, vielleicht auch getrieben vom gesamten journalistischen Spitzenpersonal. Es soll hier nicht darüber spekuliert werden, ob sie das tun, weil sie die Folgen des eigenen Handelns ausblenden, oder ob sie dabei einem zynischen Kalkül folgen. Aber ein weiteres Zitat gibt einen Hinweis darauf, wie dieses Zusammenwirken zustandekommt: "Deutsche Außenpolitik wird heute von der Zivilgesellschaft (daheim und anderswo) nicht nur beobachtet und kommentiert wie nie zuvor, sondern sogar mitgestaltet. Staatliche Außenpolitik muss deshalb lernen, ihre Ziele und Anliegen effektiver zu kommunizieren, um zu überzeugen – die eigenen Bürger ebenso wie die internationale Öffentlichkeit." heißt es dazu im oben genannten Grundlagenpapier "Neue Macht - neue Verantwortung".

Bereits als dieses Papier erarbeitet wurde, war Ursula von der Leyen in ihrem Amt als Verteidigungsministerin eine engagierte Verfechterin der darin festgeschriebenen Ausrichtung internationaler Beziehungen. Den eben zitierten Rat weiß sie wohl zu beherzigen. Publikumswirksam macht sie sich auf den Weg und bereist die Ukraine, um sich ein Bild vom Geschehen zu machen. Location-scouts lotsen sie zu Orten mit passender Szenerie. Fremdes Leid bildet die berührende Kulisse für kameragerechte Erschütterung. Ein Trio rotgelbgrüner Bundestagsabgeordneter tut es ihr nach; wo genau in der Ukraine Michael Roth, Agnes Strack-Zimmermann und Anton Hofreiter eigentlich waren und was sie im Kriegsgebiet gesehen oder gehört haben, bleibt zwar im geheimnisvollen Dunkel, aber jedenfalls qualifiziert es sie für die Medien zu einer klaren Botschaft: Deutschland muss jetzt ganz schnell schwere Waffen liefern.

Die russische Armee – so argumentieren sie – wird in den nächsten Tagen Teile der Ukraine erobern. Danach wird es notwendig sein, dass die ukrainische Armee diese Landstriche zurückerobert. Und das kann sie nur mit Hilfe deutscher Panzer und Flugzeuge. Für diese ihre Meinung steht ihnen jede Kamera und jedes Mikrofon offen; sekundiert werden sie darin von den Leitmedien, in denen Unverständnis allenfalls darüber artikuliert wird, dass der Kanzler nicht schon längst den Weg für Lieferungen freigemacht habe.

Eine Sequenz aus einer Nachrichtensendung der ARD illustriert, welche Denk- und Sprechweise inzwischen Normalität erlangt hat: interviewt wird Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik. Er schildert die Bemühungen des ukrainischen Präsidenten um die Lieferung von Waffen; entscheidend für den Verlauf von Kriegen sei es, wieviel Menschenmaterial dem Geschehen zugeführt werden könne. Und das hänge nun mal an der Ausstattung. Auf diese gleichermaßen militärisch-ehrliche wie zynische Darstellung reagiert die Journalistin noch nicht mal mit dem Heben der Augenbraue, geschweige denn mit Protest oder auch nur Nachhaken. Im Gegenteil: am Ende dankt sie dafür, dass uns, dem Fernsehpublikum, so viel fachmännische Einsicht zuteil wurde.

kollektiver Rausch

Mit Blick auf den ersten Weltkrieg schrieb Rosa Luxemburg: "Der Krieg ist ein methodisches, organisiertes, riesenhaftes Morden. Zum systematischen Morden muss aber bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden. Dies ist seit jeher die wohlbegründete Methode der Kriegführenden". Erleben wir gerade, wie auf zeitgemäße Art ein kollektiver Rausch herbeigeredet, -geschrieben, -gefilmt, -getwittert wird? Wie innerhalb weniger Wochen die öffentliche Stimmung systematisch gedreht wird? Mit Mühe erinnern wir uns: noch zwei Tage vor seiner Zeitenwende schloss der Kanzler mit guter Begründung die Lieferung von Waffen in eine Konfliktregion kategorisch aus. Meinungsumfragen zeigten, dass über zwei Drittel der Bevölkerung diese Haltung richtig fanden.

Bis dann "Schäm Dich, Kanzler!" auf der Bildzeitung prangte. Seitdem scheint es keinen Halt mehr zu geben in der Eskalation deutscher Beteiligung am Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Waren es anfangs Schutzwesten und Helme, die helfen sollten, sind es längst die Phantasien davon, wie russische Flieger vom Himmel geschossen werden, vereint mit algemeiner Begeisterung fürs Schiffeversenken im Schwarzen Meer. Längst kennen wir das gute und das schlechte Sterben. Zu Recht nimmt uns das Schicksal der Menschen mit, die beim Anstehen um heißes Wasser im Theater von Mariupol durch Bomben getötet werden. Oder beim Warten auf den Zug in Kramatorsk. Bei den Zahlen der russischen Soldaten dagegen, die getötet wurden, können es der Tausende gar nicht genug sein, die mit Stolz kolportiert werden.

Die Folgen unserer Art zu leben und zu wirtschaften, angetrieben von unendlichem Wachstum und Profit, werden immer mehr sichtbar und spürbar. Klimawandel, Artensterben, Corona-Pandemie, zunehmende Militarisierung und Kriege zerstören die Lebensgrundlage, vor allem von Menschen in nicht so privilegierten Ländern und inzwischen auch unsere.

Der Konflikt in der Ukraine zeigt, wie dringend wir die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern wie Öl und Gas beenden und konsequent auf erneuerbare Energien umsteigen müssen. Das soll uns aber nicht die Augen davor verschließen, dass ein grün angestrichener Kapitalismus, der uns klimagerechten "Wohlstand" verspricht, die verheerenden Folgen unserer imperialen Lebensweise nicht aufheben kann. Es gibt keinen Frieden in diesen zerstörerischen Verhältnissen.

 

- zurück




      anti-atom-aktuell.de