Wer trägt die Schuld
an den zunehmenden Widersprüchen
und Verwerfungen spätkapitalistischer Gesellschaften?


Die subjektlose Herrschaft des Kapitals

von Tomasz Konicz

Wer herrscht im Kapitalismus? Der erste Augenschein scheint das zu bestätigen, was zumeist den Grundbestandteil linker Theoriebemühungen oder Ideologie bildet: Es ist die Klasse der Kapitalisten, der Besitzer von Produktionsmitteln, die die Fäden der Macht in der Hand zu halten scheint - und somit den gegenwärtigen Zustand des kapitalistischen Weltsystems zu verantworten hat.

Diese Schlussfolgerung erscheint auch erst mal berechtigt angesichts der absurden sozialen Spaltung zwischen Arm und Reich, zwischen der Masse der Lohnabhängigen und den "Happy Few" der Milliardärskaste, die durch die neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik der vergangenen Dekaden immer weiter forciert wurde.

Die Daten zu der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich wirken nur noch bizarr: Inzwischen besitzen die 26 reichsten Milliardäre Vermögen in einem Nennwert, der den Habseligkeiten der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung entspricht - das sind rund 3,8 Milliarden Menschen. In den USA sind es die vermögendsten 20 Superreichen, deren Vermögenswerte dem Hab und Gut der verarmten Bevölkerungshälfte entsprechen.

In der Bundesrepublik wiederum liegt diese Relation zwischen Milliardär*innen und Mittellosen bei 45 zu 41 Millionen. 45 Megareiche Kapitalist*innen besitzen genauso viel wie die untere Hälfte der Bevölkerung, wobei die Spaltung bei den Einkommen in der Bundesrepublik inzwischen sogar stärker ausgeprägt ist als in den Vereinigten Staaten.

Diese Spaltung der spätkapitalistischen Gesellschaften mitsamt der Herausbildung einer weitgehend abgekapselten Kaste von Milliardär*innen geht mit einer verstärkten, immer offener praktizierten Durchsetzung von Interessen der Kapitalistenklasse einher. Dieser erfolgreiche Lobbyismus schlug sich nicht zuletzt in der Finanz- und Steuerpolitik der letzten Dekaden nieder, die nahezu ausschließlich die Superreichen und die Großkonzerne begünstigte. US-Milliardäre wie die berüchtigten Koch-Brüder finanzieren eine regelrechte Politmaschine, die ihre reaktionären Interessen in Washington in Gesetzesform bringt. Inzwischen wird darüber debattiert, ob die USA nicht zu einer Oligarchie verkommen sind, die durch wenige Milliardär*innen dominiert wird.

In der Bundesrepublik hingegen lassen schon mal die BMW-Milliardär*innen aus dem berüchtigten Quandt-Klan der CDU direkt Spenden zukommen, bevor die Bundesregierung mal wieder CO2-Grenzwerte zugunsten der deutschen Autoindustrie aushöhlt. Hinzu kommt - mit dem Aufstieg der Neuen Rechten - die direkte Finanzierung von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten durch Milliardäre, wie etwa im Fall von US-Präsident Trump und der deutschen AfD.

Dasselbe gilt für die Untätigkeit der Politik angesichts der eskalierenden Klimakrise. Die entsprechenden Lobbygruppen der fossilen kapitalistischen Wirtschaft haben erfolgreich jedwede ernsthafte Maßnahme zur Bekämpfung des Treibhauseffekts über Jahrzehnte mit Millionenbeträgen torpediert - sowohl in den USA als auch in Deutschland.

Kapitalisten,
Klassenkampf
und Krise

Angesichts dieser informellen Machtfülle der Kapitalist*innenklasse, die ihre wirtschaftlichen Interessen mühelos durch ihre Lobbymaschinen in Gesetzesform gießen kann, scheinen sich insbesondere der Linken die Ursachen der gegenwärtigen Krise klar abzuzeichnen: Es ist die zunehmende sozioökonomische Spaltung der Gesellschaft, die gerade durch die anscheinend hinter den Kulissen herrschende Klasse der Milliardäre, der Kapitalisten, verursacht wurde. Die grenzenlose Gier oder der unersättliche Machthunger der Kapitalistenklasse führte den Kapitalismus in die Krise.

Ähnlich scheint es sich mit der ökologischen Krise zu verhalten: Die Gier der Konzernbosse der Öl- und Autoindustrie, ihr Einfluss auf die Politik, scheint dafür verantwortlich zu sein, dass der Klimawandel allen Sonntagsreden zum Trotz durch beständig steigende CO2-Emissionen weiter angefacht wird.

Die ökonomische Stagnation, der jahrzehntelange soziale Abstieg großer Teile der Bevölkerung in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems, sie erscheinen als eine Folge der Politik der Klasse der Superreichen, die einen regelrechten Klassenkrieg gegen die arbeitende Bevölkerung führe, wie es etwa der Milliardär und Spekulant Warren Buffet formulierte:

    There’s class warfare, all right, … but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.     Warren Buffet

    Ein falscher Ansatz
    und eine falsche Prämisse

Und dennoch handelt es sich bei diesem Erklärungsansatz des Krisengeschehens, der in der Dichotomie von Proletariat und Bourgeoisie verbleibt, um ein verzerrtes Bewusstsein, das letztendlich nicht radikal genug ist, um den Krisenprozess adäquat zu erfassen. Die Krise ist mehr als die Summe des krisenbedingt eskalierenden Klassenkampfes. Die Prämisse, die dem altlinken Klassenkampfdenken innewohnt, wonach es eine Gruppe von Menschen gebe, die die gesellschaftliche Reproduktion bewusst kontrollierten, ist falsch.

Die Realität kapitalistischer Krisenentfaltung ist viel erschreckender als alle Schreckgespenster einer hinter den Kulissen des Politbetriebes ablaufenden, allmächtigen Herrschaft von superreichen Generalbösewichten - so abstoßend und verwerflich die einzelnen egomanischen Akteure in diesen exklusiven Zirkeln auch agieren mögen.

    Die Selbstbewegung
    des Kapitals

Allen tatsächlich gegebenen Verschwörungen zum Trotz: Da ist niemand hinter dem Vorhang, der in letzter Instanz die Strippen zöge, den Gang der Dinge des kapitalistischen Systems irgendwie "steuerte". (...)

Gerade in Krisenzeiten, wenn mal wieder ein "Marktbeben" oder geplatzte Finanzblasen die Stabilität des gesamten Wirtschaftssystems bedrohen - wie zuletzt 2008 - wird evident, dass selbst die Kapitalistenklasse diedestruktive Dynamik des Kapitals keineswegs "unter Kontrolle" hat, dass der krisenhafte Gang der Dinge im Kapitalismus keineswegs von einer Verschwörung gesteuert wird. Die Realität im Kapitalismus ist somit tatsächlich gruseliger als die schlimmste Verschwörungsideologie. Die gesamte reelle Welt, Mensch wie Natur, sind nur Durchgangsstadien eines blind prozessierenden Akkumulationsprozesses abstrakten Reichtums, letztendlich abstrakter Quanta verausgabter, "toter" menschlicher Arbeit.

Die Gesellschaft aber ist ein notwendiges Anhängsel der amoklaufenden, realabstrakten Verwertungsbewegung des Kapitals, da Kapital nur durch Lohnarbeit und Ressourcenverfeuerung in der Warenproduktion verwertet werden kann. Soziale Existenz hat letztendlich nur das, was im Rahmen dieses blinden Kreislaufs der Kapitalvermehrung notwendig und finanzierbar ist: Also nur das, was zum Wuchern des Kapitals direkt oder indirekt beträgt.

Dies gilt nicht nur für die Kategorie der "Arbeitsplätze" in der Wirtschaft, sondern auch für den Staatsapparat in seiner Funktion als "ideeller Gesamtkapitalist" (Marx) oder sogar für die Kulturproduktion, die im Rahmen der neoliberalen Vermarktungsstrategien zur Standortoptimierung beizutragen hat - soziale Existenz unterm Kapital steht immer unter dem Vorbehalt ihrer "Finanzierung". Auf gesamtgesellschaftlicher, globaler Ebene agiert somit das Kapital als ein "automatisches Subjekt" uferloser, tautologischer Selbstvermehrung.

Die konkrete Welt ist somit nur "Material" dieser verselbstständigen, realabstrakten Selbstbewegung des Kapitals, das im uferlosen Wachstumswahn der Menschheit ihre sozialen und ökologischen Existenzgrundlagen entzieht. Die globale Mehrwertmaschine des Kapitals verfeuert somit die Welt, um den irrationalen Selbstzweck uferlosen Kapitalwachstums möglichst lange aufrechtzuerhalten. Eine anwachsende, ökonomisch "überflüssige" Menschheit, eine eskalierende ökologische Krise sind die Folgen dieser Selbstbewegung des Kapitals.

In einer Umkehrung der alten Fortschrittsromantik drängt sich somit das Bild eines beständig beschleunigenden, auf einen Abgrund zurasenden Zuges auf, einer außer Kontrolle befindlichen Maschine, angetriebenen durch die Selbstbewegung des Kapitals, die von den Marktteilnehmern unbewusst, konkurrenz- und marktvermittelt hervorgebracht wird. Der überlebensnotwendige, transformatorische Akt besteht darin, die Notbremse zu finden und zu betätigen.

    Die Frage von Schuld
    und Verantwortung
    im Kapitalismus

Selbstverständlich spricht der Fetischismus des Kapitals die Akteure, die diesen exekutieren, nicht frei. Das andere Extrem zur manischen Sündenbocksuche stellt ja ein ohnmächtiges Systemdenken dar, bei dem die gegenwärtigen Akteure in Wirtschaft und Politik exkulpiert werden. Bei dieser Sichtweise scheint es so, als ob die Verantwortlichen vor lauter Systemzwängen und objektiven Strukturgesetzten nicht mehr auszumachen wären.

Die konkreten Täter verschwinden hinter dem zerstörerischen Walten des automatischen Subjekts der kollabierenden Verwertungsdynamik des Kapitals. Dass der Fetischismus der kapitalistischen Gesellschaft, wo die marktvermittelten Handlungen der Marktsubjekte diesen als eine fremde, quasi-objektive Kraft entgegentreten, keineswegs zu einer Exkulpierung der Taten der Täter führt, hat der Krisentheoretiker Robert Kurz schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts dargelegt:

    "Wenn nun der gemeinsame Formzusammenhang von abstrakter Arbeit, Warenform, Staatsbürgerlichkeit usw. ins Blickfeld der Kritik rückt, wo bleibt da die Verantwortlichkeit? Kann man einen blinden Strukturzusammenhang, kann man das automatische Subjekt für irgend etwas verantwortlich machen, und sei es das größte Verbrechen? Und umgekehrt: Wenn die kapitalistische Barbarei letzten Endes in den stummen Zwängen der Konkurrenz usw. angelegt ist, sind dann nicht die barbarischen Taten der hässlichen Manager, der schmutzigen Politiker, der bürokratischen Krisenverwalter, der blutigen Schlächter des Ausnahmezustands irgendwie entschuldigt, weil immer bedingt und eigentlich durch die subjektlosen Strukturgesetze der "zweiten Natur" verursacht?

    Eine solche Argumentation vergisst, dass der Begriff des automatischen Subjekts eine paradoxe Metapher für ein paradoxes gesellschaftliches Verhältnis ist. Das automatische Subjekt ist keine aparte Wesenheit, die für sich irgendwo dort draußen hockt, sondern es ist der gesellschaftliche Bann, unter dem die Menschen ihr eigenes Handeln dem Automatismus des kapitalisierten Geldes unterwerfen.

    Wer aber handelt, das sind immer die Individuen selbst. Konkurrenz, künstlich erzeugter Überlebenskampf, Krisen usw. treiben die Potenz der Barbarei hervor, aber praktisch vollstreckt werden muss diese Barbarei von den handelnden Menschen, also auch durch ihr Bewusstsein hindurch. Und deshalb sind die Individuen auch subjektiv verantwortlich für ihr Tun, der hässliche Manager und der schmutzige Politiker ebenso wie andererseits der rassistische Arbeitslose und die antisemitische alleinerziehende Mutter.

    Das ungeheuere Angst- und Drohpotential dieser Gesellschaft muss tagtäglich verarbeitet werden, und jeden Moment treffen die Individuen dabei Entscheidungen, die niemals völlig alternativlos sind - weder im alltäglichen kleinen noch im gesellschaftlich-historischen großen Maßstab. Niemand ist einfach nur eine willenlose Marionette, sondern alle müssen die haarsträubenden Widersprüche, die Ängste und Leiden dieses Banns selber ausagieren.

    Deshalb ist es kein Widersinn, die notwendige Gesellschaftskritik auf die Ebene der sozial übergreifenden Strukturen, auf die abstrakte Arbeit und das automatische Subjekt zu richten, gleichwohl aber die handelnden Individuen für ihr Tun verantwortlich zu machen, auch wenn ihre gesellschaftliche Charaktermaske ihnen den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit nahelegt."       Robert Kurz: Marx Lesen

Ein Donald Trump oder Jeff Bezos sind als Subjekte, die den widersprüchlichen Automatismus der Kapitalakkumulation auf politischer und wirtschaftlicher Ebene exekutieren, für ihre Taten verantwortlich. Dies gilt auch für einen Wolfgang Schäuble, der für all das voll verantwortlich ist, was er Griechenland und Südeuropa angetan hat; aber dies gilt auch für den kleinen gemeinen Forentroll, der für all die Hetze verantwortlich ist, die er im Netz absondert - auch wenn vermittels dieser Handlungen nur die systemische Krisendynamik auf politischer oder ideologischer Ebene exekutiert wird.

Wobei selbstverständlich die historische Schuld, die ein Egomane wie Trump oder ein Sparsadist wie Schäuble auf sich geladen hat, weitaus höher wiegt als die kläglichen Absonderungen eines einzelnen politischen Borderliners der Neuen Rechten in Zeitungsforen oder sozialen Netzwerken.

Die erste Frage, die sich wie selbstverständlich bei Krisenausbruch aufdrängt, ist die nach der Krisenschuld. Es ist eine falsche Frage, sie führt in ideologische Verblendung. Gerade umgekehrt wird ein Schuh draus: Persönliche Schuld muss im "Alltag" der Kapitalverwertung, im "Normalvollzug" der kapitalistischen Tretmühle gesucht werden: bei der konkreten ökonomischen Ausbeutung, der politischen Unterdrückung und der Ideologieproduktion, die den Automatismus des Systems am Laufen hält.@

stark gekürzte Fassung des Artikels,
veröffentlicht am 27. April 2019 bei heise.de

 

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