"Klimaneutralität" durch "grünes Wachstum"

Der große (Selbst-)Betrug

von Birgit Mahnkopf

Seit Beginn des Holozäns vor 12.000 Jahren verbrauchen, transformieren und zerstören Menschen die Natur – indem sie Lebewesen, Stoffe und Energieträger für ihre Zwecke nutzen. Dabei erzeugen sie "Reststoffe" in Form von Gasen und Giften. Das alles geschieht einzig durch ihre Art und Weise zu arbeiten, sich zu bewegen, schlichtweg: durch ihre Lebensweise.

Als besonders zerstörerisch hat sich der "euro-atlantische way of life"erwiesen, der sich seit dem 16. Jahrhundert über den gesamten Globus ausgedehnt hat. Während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist diese Lebensweise, die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln, großer Industrie, hoher Mobilität, städtischer Agglomerationsverdichtung und auf einer von der Realökonomie immer weiter abgekoppelten Sphäre der Finanzmärkte sowie auf beschleunigtem technischen Fortschritt basiert, im Zuge "nachholender Industrialisierung" global zur dominanten Lebensweise geworden. Heute ist der kapitalistische Weltmarkt, der zu Zeiten von Karl Marx nicht mehr als eine Tendenz war, tatsächlich vollendet. Denn nach dem Sieg des Kapitalismus über die sogenannte Zweite Welt der nur eingeschränkt in den Weltmarkt integrierten Wirtschaften gibt es keine Ökonomien mehr, die nicht vom Marktprinzip erfasst wären.

Diese Entwicklung hat die Welt in einen Zustand versetzt, an dem sich für die Menschheit als Ganzes die existenzielle Frage stellt, wie die Zerstörung der Ökosysteme gestoppt, die Vernutzung von Naturstoffen radikal heruntergefahren und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Treibhausgasemissionen, die wir in den vergangenen 200 Jahren in die Atmosphäre geschickt haben, schnellstmöglich zu reduzieren. Im Kern berührt diese Frage den gesamten Entwicklungspfad der bisherigen menschlichen Zivilisation. Denn dieser gründet darauf, die Energieproduktion pro Landfläche zu erhöhen – und keine der anderen Energiequellen ermöglicht dies in so gewaltigem Umfang wie die fossilen.

Daher besteht die epochale Herausforderung heute darin, die Politik an einem ökologischen Imperativ auszurichten der wie folgt bestimmt werden kann: Erstens muss der Energieverbrauch pro Kopf der wachsenden Weltbevölkerung drastisch reduziert werden – und dies in erster Linie in den großen Industrieländern, wo er um so vieles höher liegt als in den Ländern des Globalen Südens. Zweitens ist die Belastung aller Senken für Schadstoffe jedweder Art (und beileibe nicht allein der Klimagase) schrittweise auf etwa das Niveau der 1970er Jahre, danach auf das der 1960er und schließlich auf das der 1950er Jahre zurückzuführen. Dazu stehen heute moderne Technologien zur Verfügung, sodass ein deutlich verringerter Energieverbrauch in den Industrieländern nicht gleichbedeutend sein müsste mit einem zivilisatorischen Rückschritt. Drittens ist der globale Ressourcenverbrauch um mindestens zwei Drittel zu senken. Dies würde zugleich verlangen, dass viertens der Konsum von nicht-lebenswichtigen Gütern deutlich eingeschränkt und die Wiedernutzungs- sowie Recyclingquoten aller Stoffe drastisch gesteigert werden müssten.

Allerdings basiert die soziale Formation des Industriekapitalismus zum einen auf der Produktion für anonyme und weitgehend selbstregulierte Märkte, auf denen die stetige Ausweitung der Geschäftstätigkeit durch die Konkurrenz erzwungen wird, und zum anderen auf Geld in seiner Form als Kredit, das nicht nur einen Profit für seine EignerInnen erwirtschaften soll, sondern auch die Zinskosten decken muss – bevor es vermehrt aufs Neue in den Wirtschafts- und Akkumulationsprozess eingeführt wird. Dies ist ein grenzenloser Vorgang, der kein anderes Ziel hat, als die Akkumulation von Kapital in Gang zu halten. Die ebenso massiven wie irreversiblen ökologischen Prozesse der Transformation von Stoffen und Energie in mehr oder weniger nützliche Waren stoßen hingegen an biophysische Grenzen der Natur, sowohl auf der Input-Seite ökonomischer Prozesse, also hinsichtlich der Verfügbarkeit von fruchtbarem Land, Wasser, Mineralien, als auch auf der Output-Seite der Aufnahmefähigkeit der Senken für jede Form von Giftstoffen. Daher stellt sich mit dem ökologischen Imperativ zugleich die Frage nach der Zukunft kapitalistischer Industriegesellschaften.

    Der nicht so neue und auch nicht so grüne Deal der EU

Wie sind vor diesem Hintergrund die allenthalben als "ambitioniert" gepriesenen Versprechen eines Green New Deals zu beurteilen? Nur zur Erinnerung: Mehr als die Hälfte der klimaschädlichen Gase, die sich heute in der Erdatmosphäre befinden, sind nach 1990 emittiert worden, also in einer Zeit, in der sich viele politische Akteure auf nationaler wie internationaler Ebene bereits zu aktivem Klimaund Umweltschutz verpflichtet hatten. Was also ist "neu" und was "grün" an den "Deals", die heute von PolitikerInnen fast aller Couleur in Deutschland, in der EU, in Großbritannien angekündigt werden?

Eine wichtige Funktion der grünen Deals besteht darin, die Nachfrage nach neuen Technologien zu stimulieren, die sauberer sein sollen als die heute genutzten – wobei "sauber" in erster Linie auf das Ziel eines geringeren Ausstoßes von Treibhausgasen in die Atmosphäre bezogen wird; eine Trendwende in der petrochemischen Industrie, die heute nahezu ausschließlich Kunststoffe produziert, die als giftiger Müll die Weltmeere verseuchen, ist dagegen nicht beabsichtigt. Das erklärte Ziel des Green Deals der EU-Kommission besteht darin, die sogenannte Klimaneutralität von Wirtschaft und Gesellschaft durch die beschleunigte Entwicklung von effizienzsteigernden Produktionsverfahren und -techniken zu ermöglichen; das Wachstumsziel steht dabei nicht zur Disposition. Eine marginale Rolle spielt in der Debatte hingegen, dass in sehr kurzer Zeit auch der Verbrauch von Rohstoffen, die in der Industrie, im Verkehr, beim Wohnen, aber ebenso für soziale wie technische Infrastruktureinrichtungen (nicht zuletzt beim Ausbau erneuerbarer Energien) zum Einsatz kommen, drastisch reduziert werden muss. Weil "Dekarbonisierung" und "Digitalisierung" stets als Zwillingsziele des europäischen Green Deals benannt werden, muss eher davon ausgegangen werden, dass eine Entwarnung bei den Emissionen von einem neuerlichen Run auf Rohstoffe jeglicher Art begleitet wird. Denn digitale Substitute für analoge Verfahren und Produkte, sei es im militärischen oder zivilen Bereich, benötigen große Mengen an Metallen und Mineralien, genauso wie die Technologien zur Erzeugung erneuerbarer Energien und die E-Mobilität.

Beim europäischen Green Deal spielen aber auch geopolitische Motive eine große Rolle. Durch den angestrebten Ausbau von Technologien zur Erzeugung erneuerbarer Energien – mit dem Ziel, Industrie, Verkehr und das Wohnen weitestmöglich zu elektrifizieren – soll die Energiesicherheit des Staatenbundes gestärkt, mithin die Abhängigkeit von Energieimporten aus dem Ausland (insbesondere vom Erdgas aus Russland) verringert werden. Vor allem aber sollen Unternehmen im Hinblick auf die Wachstumsmärkte der Zukunft "fit" gemacht werden für den Wettbewerb mit anderen globalen Akteuren, insbesondere mit chinesischen und US-amerikanischen Tech-Unternehmen. Daher hat der ehemalige CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier noch im Sommer des Jahres 2021 die keineswegs abwegige Prognose aufgestellt, Deutschland benötige zukünftig 20 Prozent mehr Strom und die Industrie noch viel mehr.

Beim Green Deal geht es also weder für Deutschland noch für andere Mitgliedsstaaten der Union um die ökologisch gebotene Rückführung des Energieverbrauchs, sondern lediglich darum, einen weiterhin steigenden Energieverbrauch aus anderen als (nur) den fossilen Quellen zu decken – und das schließt aus Sicht Frankreichs, Finnlands und anderer EU-Staaten auch die Nutzung von Atomenergie mit ein. Zugleich ist zu befürchten, dass durch die Bepreisung von CO2-Emissionen und die Ausweitung des Handels mit Verschmutzungsrechten dem seit Verabschiedung des Kyoto-Protokolls nur allzu bekannten "systemischen Schwindel" neue Wege erschlossen werden. Denn ein großer Teil der Emissionen, die bei der Produktion und beim Konsum von Gütern und Dienstleistungen in einem EU-Staat anfallen, kann mithilfe des erst durch staatliche Regulation geschaffenen Marktes für die Bepreisung und den Handel von Emissionen anderswo (allzu häufig in den armen Ländern des Globalen Südens) verrechnet werden.

Dabei ist es egal, ob technische Lösungen (wie die hochproblematische Abscheidung von CO2 und deren Verbringung in tiefere Erdschichten) zum Einsatz kommen oder ein "Ausgleich" für Europas Emissionen erfolgt – etwa durch Aufforstung zur Absorption von CO2 an einem anderen Ort auf dem Planeten. Insofern stellt der Green Deal keinen Wandel in Aussicht. Denn ein solcher Wandel würde – inzwischen selbst nach Einschätzung der International Energy Agency – verlangen, dass die noch vorhandenen fossilen Ressourcen im Boden bleiben. Vielmehr kommen Maßnahmen zum Einsatz, die es in der Geschichte kapitalistischer Volkswirtschaften immer gegeben hat: Es geht vornehmlich um die staatlich subventionierte Erschließung und Eroberung von Märkten – und beim angestrebten Export von umweltfreundlichen Technologien "Made in Europe" auch um die Schaffung von Arbeitsplätzen, zumindest in den wenigen Mitgliedsstaaten, die neue "grüne Technologien" entwickeln, produzieren und exportieren.

Als Kernelemente des Green Deal lassen sich daher identifizieren:

  1. Mithilfe staatlich gesetzten Rechts werden Märkte – für Emissionen, für E-Mobilität oder die Anwendung von algorithmisch gesteuerten Maschinen in nahezu allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen – geschaffen, gesichert und ausgeweitet. Das geschieht, wie bisher schon, durch den Schutz von geistigen Eigentumsrechten und die "sanfte Macht" von Freihandels- und Investitionsschutzabkommen, Diplomatie und "Entwicklungshilfe".
     
  2. Die Steuerung dieser Zukunftsmärkte soll über den Mechanismus von Angebot und Nachfrage erfolgen, also der Preisbildung auf mehr oder weniger freien (weil teils von großen Oligopolen beherrschten) Märkten überlassen bleiben. Denn allein den Märkten wird zugetraut, die benötigten technischen Innovationen hervorzubringen, um auf dem Pfad der kapitalistischen Wachstumsdynamik bleiben zu können.
     
  3. Technologische Innovationen gelten wie bisher als probates Mittel, um auf der stofflichen Seite der Produktion eine Effizienzsteigerung zu erzielen, will heißen: gleich viel oder sogar noch mehr Produkte und Dienstleistungen nicht nur mit geringerem Energieaufwand, sondern auch mit weniger Rohstoffeinsatz herstellen, transportieren, verkaufen zu können.
     
  4. Ergänzend wird zudem auf die freiwillige Veränderung von Konsumverhalten und Lebensstil gesetzt. Es wird also bewusst darauf verzichtet, durch staatliche Regulierung Verhaltensänderungen zu erzwingen, die tatsächlich eine sozial-ökologische Transformation einleiten könnten. Stattdessen wird beispielsweise darauf vertraut, dass auch ohne Tempolimit auf deutschen Autobahnen langsamer gefahren wird, weniger billig erzeugtes Fleisch und mehr teures, weil nachhaltig angebautes Gemüse gegessen wird, selbst wenn die Löhne nicht steigen.

    Was der Green Deal
    nicht verändern wird

Der angekündigte Green Deal wird mit großer Sicherheit nicht verhindern, dass jene "free gifts of nature" geplündert werden, die niemandem gehören, keinem einzelnen Menschen, keinem Staat und noch nicht einmal der Menschheit als Ganzem, die dieser nur zur fürsorglichen Pflege überlassen sind – so Karl Marx, lange vor ähnlich lautenden Formulierungen im Brundtlandt-Report von 1987, der die ökologische Debatte wesentlich beeinflusst hat.

Die Fixierung der Green New Deals auf eine teilweise Ersetzung fossiler Energieträger durch erneuerbare hat, wie zuvor der Hype um die Digitalisierung, den Run auf mineralische Rohstoffe bereits in neue Dimensionen katapultiert: Die Preise für viele dieser Rohstoffe sind in die Höhe geschossen, geopolitische Konflikte um den Zugang zu "kritischen Metallen" verschärfen sich, und bei einigen (wie etwa beim Kupfer) macht sich sogar physischer Mangel bemerkbar. Was wir derzeit erleben, ist daher gerade nicht die Berücksichtigung des ökologischen Imperativs in der Politik.

Die grünen Deals leiten lediglich eine Verschiebung der ökologischen Zerstörungen von der Output-Seite des Systems hin zur Input-Seite ein: von den Emissionen, die unter Bedingungen prinzipiell unbegrenzter kapitalistischer Akkumulationsdynamik notwendigerweise ansteigen und die die Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre bei Weitem überschreiten, hin zu der forcierten Plünderung agrarischer und mineralischer Rohstoffe und Wasserressourcen. Daher wird heute sogar die letzte frontier in den Blick genommen: die Tiefsee mit ihren schwer zugänglichen Rohstoffen.

Green New Deals werden dafür sorgen, dass noch weitere Sphären der Natur besitzindividualistisch nach ökonomischen Kriterien verwaltet werden. Freilich ist es illusorisch, davon auszugehen, dass durch ökonomisch motivierte "Pflege" von Parzellen der Natur die Umwelt als Ganzes geschützt werden kann. Denn das web of life, also die in der Natur bestehenden Verbindungen zwischen Sedimenten, Pflanzen, Tieren und Menschen sind oft weder erkennbar noch nachvollziehbar und daher einer Pflege gar nicht zugänglich. Daher werden auch die grünen Deals nicht dafür sorgen, dass Folgen des rationalen Markthandelns, die in fernen Räumen und in fernen Zeiten entstehen, nicht in das gegenwärtige Markthandeln einbezogen werden. Zu diesen hinlänglich bekannten "externen Effekten" des Marktes kommt hinzu, dass viele aus der Perspektive einzelner MarktteilnehmerInnen durchaus rationale Entscheidungen – etwa regelmäßiges Autofahren – sich zur Irrationalität des Ganzen summieren.

    Warum nur die Politik
    Wandel erwirken könnte, ...

Wer der Irrationalität des Ganzen Einhalt gebieten wollte, müsste der Steuerung durch Märkte das Prinzip der Politik entgegensetzen – indem bestimmte gesellschaftliche Sphären und ökonomische Prozesse der Marktlogik entzogen werden und an ihrer Stelle quantitative Restriktionen, Rationierung, Mengensteuerung und Preiskontrollen zum Einsatz kommen. Fraglos wäre eine Stabilisierung der Rohstoffpreise durch striktes Nachfragemanagement auf globaler Ebene ein wichtiger Schritt, um einerseits die ökologisch ruinöse Rohstoffplünderung einzudämmen und anderseits den rohstoffexportierenden Ländern hinreichende Anreize zu geben, die Reste des noch vorhandenen natürlichen Reichtums nicht zu Geld zu machen und dadurch zu zerstören.

Ebenso wichtig wären neue Regeln für den Welthandel, die das Prinzip des Freihandels nicht auf solche Produkte ausdehnen dürften, deren Herstellung von durch Menschen nicht beeinflussbaren natürlichen Produktionsbedingungen abhängen oder geistige Ressourcen der gesamten Menschheit sind. Dies könnte den Marktvorrang für eigenständige und umwelterhaltende Ressourcennutzung sowohl bei den Energieträgern, bei Rohstoffen, Grundnahrungsmitteln und Kulturgütern begünstigen. Es bräuchte aber auch einen "asymmetrischen Protektionismus" zugunsten der schwächeren Ökonomien, strikte Kartellgesetze und ein politisch betriebenes Schrumpfen der marktbeherrschenden großen Unternehmen, insbesondere aber des Finanzsektors und seine Rückführung in eine der Realwirtschaft dienende Rolle.

Das mag heute unrealisierbar scheinen. Doch wenn es tatsächlich um das Gemeinwohl und um die Erhaltung der ökologischen Grundlagen allen Lebens auf dem Planeten ginge und "grün" die Farbe der Zukunft statt nur eine farblich passende Verkleidung für den nächsten "Deal" werden sollte, so sind radikal anmutende Maßnahmen alternativlos.

    ..., – das aber nicht tut

Doch warum sind politische EntscheidungsträgerInnen auf nationaler wie europäischer und internationaler Ebene nicht mutiger und unternehmen wenigstens den Versuch, den BürgerInnen verständlich zu machen, warum jetzt nur noch der Griff zur Bremse den rasend schnell auf einen Abgrund zusteuernden Zug der globalisierten kapitalistischen Marktgesellschaft zum Halten bringen könnte? Letztlich wird von ihnen ja auch erwartet, dass sie für das Gemeinwohl sorgen; deshalb kennen wir das Kartellrecht, den (freilich unzulänglichen) Umweltschutz und die (stets prekären) ArbeitnehmerInnenrechte.

Nun, unter den Bedingungen kapitalistischen Wettbewerbs und der Verselbstständigung des Marktes zu einem "Sachzwang" (Elmar Altvater) scheint eine Abstimmung der verschiedenen Rationalitäten noch nicht einmal auf einzelstaatlicher Ebene möglich, geschweige denn in einem Staatenbund wie der EU. In demokratisch verfassten Gesellschaften können und müssen die BürgerInnen ihre politischen RepräsentantInnen für all deren Handeln wie für ihre Unterlassungen zur Rechenschaft ziehen. Zugleich sind in so verfassten Gesellschaften aber auch systemische Blockaden (Strukturen, Regeln, Prozesse) eingebaut, die einen radikalen Wandel, so wie er heute durch die drohende ökologische Katastrophe notwendig wäre, verhindern.

Da ist zum einen die starke Lobbymacht aller braunen Industriezweige der Energieerzeugung, der Stahl- und Zementindustrie; zu diesen müssen aber auch die Automobil- und die Flugzeugbranche gerechnet werden, Teile des Maschinenbaus sowie die vom fossilen Öl gänzlich abhängige Petrochemie und nicht zuletzt ein Großteil der Finanz und Versicherungswirtschaft: Die fossilen Rohstoffe sind schließlich bereits auf Jahre hinaus an den Rohstoffbörsen eingepreist. Daher würde ein Platzen der fossilen Blase viele Anlagen entwerten – und es würden die Pensionsansprüche von Millionen Menschen bedenklich zusammenschrumpfen. Wobei diese oftmals gar nicht wissen, dass ihre ehemaligen öffentlichen Arbeitgeber diese durch bislang recht lukrative Investments in eine der oben genannten Brachen abgesichert haben.

Hinzu kommen die bekannten Eigenheiten von parlamentarischen Demokratien: die parteipolitischen Rivalitäten, das System der wechselseitigen Kontrolle von Exekutive, Legislative und Judikative, das seine unbestreitbaren Vorzüge hat, radikale Veränderungen aber stets erfolgreich ausbremsen kann. Zudem denken PolitikerInnen in Wahlperioden und unterstützen daher eher solche Maßnahmen, die sich noch in ihrer Amtszeit realisieren lassen – und dabei zahlt sich dann eher der erfolgreiche Einsatz für die Autobahnanbindung eines Shopping-Centers aus als ein Engagement für die Renaturierung eines Waldes oder Moores, dessen Erfolg sich erst in ein paar Jahrzehnten zeigen wird. Hinzu kommt, dass PolitikerInnen es schlichtweg nicht gewohnt sind, ihrer potenziellen Wählerschaft zu widersprechen, sie zu belehren oder normativ herauszufordern oder gar gegen den Willen ihrer WählerInnen zu verstoßen, obwohl dies ihr Recht und in vielerlei Hinsicht auch ihre Pflicht wäre.

Nicht weniger bedeutsam als die verbreitete Mutlosigkeit gewählter VolksvertreterInnen sind aber auch Blockaden, die von den WählerInnen ausgehen: Sie sind in ihrer breiten Mehrheit nicht unbedingt daran interessiert, detailliert informiert und auf Zielkonflikte aufmerksam gemacht zu werden, für die eine Lösung meist nicht im Konsens zu finden ist. Zudem erwartet eine Mehrheit der WählerInnen Verbesserungen ihrer eigenen Lage in möglichst kurzer Zeit und honoriert selten Versprechungen auf das Abwenden von Gefahren, die erst morgen virulent werden oder Verbesserungen, die sich nur in langer Frist einstellen können – oder gar solche, die Menschen zugutekämen, die sie selbst als "Fremde" sehen. WählerInnen sind in der Regel auch wenig empfänglich für die Ankündigung, dass sie in Zukunft weniger von etwas erwarten dürfen, sondern optieren eher für Parteien, die ihnen mehr von was auch immer versprechen. Sehr wichtig ist auch, dass zukünftige Generationen, die mit den heute getroffenen oder unterlassenen politischen Entscheidungen leben müssen, an dem Zustandekommen dieser Entscheidungen nicht beteiligt sind.

Kurzum:

Die parlamentarische Demokratie erlaubt und befördert den inkrementellen (schrittweisen) Wandel, sie fördert auch die heute gebotene Solidarität im Nahbereich, im günstigsten Fall sogar im nationalen Kontext, doch greift sie nur in seltenen Fällen darüber hinaus. Sie ermöglicht unter- und außerhalb der institutionalisierten Politik die Kooperation von zivilgesellschaftlichen Organisationen, von Gemeinden und sogar von ganzen Städten; in jüngster Zeit haben sich diese Kooperationen sogar als wesentliche Treiber rechtlicher Innovationen erwiesen, wie etwa bei dem Versuch, den Klimaschutz im Grundgesetz zu verankern und völkerrechtlich einklagbar zu machen. Doch hinsichtlich der heute notwendigen radikalen politischen Entscheidungen wirkt die parlamentarische Demokratie in erster Linie strukturkonservativ.

Daher erleben wir Regierungen in Europa, wie anderswo auch, die in die Zwangsjacke des Wachstumsimperativs gefesselt sind, unfähig, den mächtigen Kräften der Beharrung entgegenzutreten. Um die versprochene sozial-ökologische Wende in Gang zu setzen, müssten sie wohl in einem ersten Schritt den akkumulierten monetären Reichtum umverteilen, damit die aus ökologischer Sicht gebotene Verkleinerung des menschlichen Fußabdrucks, die sich zwangsläufig in einem geringerem Zuwachs des ökonomischen Wachstums niederschlagen würde, nicht ausgerechnet diejenigen mit aller Härte trifft, die den geringeren Anteil an seinen desaströsen Folgen zu verantworten haben.@

in Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Birgit Mahnkopf ist emeritierte Professorin
für Europäische Gesellschaftspolitik
an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

 

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