Stell dir vor, es gibt einen Konflikt – und keine*r kann hingehen.

Soziale Nähe in Zeiten der Cholera

von Martin DonatBI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg

In einer Zeit, wo viele Menschen durch mutierte Coronaviren der Sorte SARS-CoV-2 bedroht sind, könnte das Fernbleiben von Versammlungen, Demonstrationen und Beteiligungsformaten im Einzelfall auch eine ausgesprochen sinnvolle und vernünftige Reaktion und ein Akt gelebter Solidarität sein. Aber in der gegenwärtigen Ausnahmesituation stellt sich dennoch die drängende Frage, wie denn kritischer Diskurs, Protest und solidarisches Handeln angesichts von "social-distancing", Existenznot und massiven Veranstaltungsbeschränkungen überhaupt stattfinden kann.

Zu Beginn des Infektionsgeschehens, schon während der "ersten Welle" der Corona-Epedimie, hatten Unterstützer*innen von Geflüchteten vorgelebt, wie zumindest Protestformen auch unter Abstandswahrung und Hygieneauflagen funktionieren könnten. Als Demonstrationen oder Versammlungen konnte man diese Einzelaktionen allerdings nicht ansprechen. Es war aber die Ordnungsmacht, die leider Widersetzliches witterte, Verbote aussprach, zu deren Durchsetzung selber Abstandsgebote missachtete und letztlich alle Beteiligten leichtfertig in Gefahr brachte. Zu Gute halten dürfte man ihr allenfalls die allgemeine Überforderung in einer nicht geübten Situation.

Der unreflektierte Ausschlag der Obrigkeit zugunsten autoritärer Beschränkungen blieb dennoch unverständlich und repressiver Tradition verhaftet. Es bedurfte erst höchstrichterlicher Entscheidungen und des Verfassungsgerichtes, um klarzustellen, dass Grundrechte nicht nach Belieben abgeschaltet werden können und auch im Rahmen des notwendigen Infektionsschutzes noch in angemessenen Formen ausgeübt werden dürfen. Die unmissverständlichen Gerichtsentscheide haben damit auch deutlich gemacht, dass die "checks and balances", die Kontrollmechanismen einer freiheitlichen Demokratie und eines Rechtsstaates zumindest im Extremfall noch funktionieren.

Dieses frühe libertäre Eintreten für allgemeine Grundrechte (übrigens auch und besonders für Menschen an den europäischen Außengrenzen und in autoritären europäischen Staaten, für die das Grundrecht auf Asyl auch ohne Corona ausgesetzt ist) darf keinesfalls verwechselt werden mit den jüngsten sogenannten "Grundrechte-Demos" der erst fast ein halbes Jahr später auf den abgefahrenen Zug aufgesprungenen angeblichen Bewegung "Querdenken". Diese Querfront aus Verschwörungsfanatikern, AfD-Anhängern, Esoterikern, Reichsbürgern, Trumpisten, Antisemiten, alten und Neo-Nazis aber auch anderen Antidemokraten bedient sich allerdings nur vorgeblich der Grundrechtsdebatte, ohne aber in irgendeiner Weise emanzipatorische und libertäre Ziele damit zu verfolgen. Der Gründer dieser Querdenker, der Stuttgarter Medienunternehmer Ballweg, ist nicht nur als Sympathisant der Trump-nahen, rechtsextremen US-Verschwörungsgruppe Q-Anon bekannt, sondern steht auch im begründeten Verdacht, hauptsächlich Spenden einzusammeln, die dann beispielsweise über die sogenannten "Klagepaten" wieder in die Taschen anderer Köpfe der selbsternannten "Massenbewegung" zurückfließen. Dabei bedient sich dieses lukrative Privatunternehmen sehr geschickt genau derjenigen Mechanismen und Funktionen der modernen Medienlandschaft, die es an anderer Stelle lauthals als Manipulation eines politischen Establishments bekämpft.

Wenn wir als Umwelt- und anti-Atom-Bewegung also Überlegungen zu Protestformen und sozialen Bewegungen in Corona-Zeiten anstellen, so meinen wir keineswegs diese gruseligen Wirklichkeitskonstruktionen, die sich eigentlich leicht als das entlarven lassen, was sie tatsächlich sind: rechte Verschwörungslegenden, bei denen am Ende meist ein fiktionales "Weltjudentum" oder irgendeine (amerikanische) Milliardärsfamilie hinter allem Bösen dieser Erde stecken. Auch eine überkomplexe Welt kann uns nicht verleiten, Kapitalismuskritik oder Wachstumswende mit diesen kruden Ideen zu verwechseln. Der Grund ist schnell ausfindig gemacht. Unser Handeln ist nicht von Ausgrenzung, Elitedenken, Menschenverachtung, Neid und Gier geleitet, sondern von dem Streben nach Emanzipation, Gerechtigkeit, Solidarität, Völkerverständigung und einer lebenswerten Zukunft für alle.

Aber auf dem Weg dahin baut auch für uns Corona schier unüberwindbare Hürden auf. Denn während einerseits physische Treffen und Versammlungen unmöglich oder stark eingeschränkt und Demonstrationen nur als exemplarische Proteste verantwortbar sind, ruhen Umweltzerstörung, Artenschwund und Klimawandel keineswegs, werden durch Klima und Krieg Vertriebene gnadenlos an den Außengrenzen abgewiesen oder unterversorgt in Internierungslagern inhaftiert. Der Staat und die Privatwirtschaft denken nicht daran, in der fundamentalen Krise einer Pandemie eine Friedenspflicht einzuhalten. Ganz im Gegenteil werden Ressourcen-fressende Technologien sogar vermehrt propagiert, subventioniert oder zusätzlich ausgebaut. Und die unausweichliche Wirtschaftskrise verstärkt trotz aller Fonds und Transferleistungen die ohnehin schon unerträgliche Schere zwischen prekären Lebensbedingungen und unverschämtem Überfluss im Lande.

Umfragen zufolge befürworten angeblich über 40 % der Pandemie-bedingten Heimarbeiter*innen die Beibehaltung ihrer jetzigen Homeoffice-Arbeitsplätze auch nach Corona. Bei näherer Nachfrage stellt sich allerdings heraus, dass diesen Befragten durch die Tätigkeit zuhause über 1,5 Stunden täglicher Arbeitsweg und mehr erspart bleiben. Ihnen wäre also folglich ebenso mit Reduzierung der täglichen Arbeitszeit gedient, wie mit wohnortnahen und kinderfreundlichen und sozialförderlichen Arbeitsstellen. Was womöglich der Verlust sozialer Interaktion im Betrieb oder das Aufeinanderhocken in Lebensgemeinschaften und Kleinfamilien anrichten, könnten dagegen erst Langzeitstudien erhellen. Die Zunahme von Konflikten, Gewalt, Misshandlungen, Missbrauch und Trennungen zeichnet sich aber schon jetzt deutlich ab.

Dass der auch für die nach-Corona-Zukunft propagierte Online-Unterricht nur einen Bruchteil des klassischen Präsenzunterrichts an Lerninhalten vermitteln, aber andererseits zu schweren Störungen und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen führen kann, ist inzwischen von den Verantwortlichen nicht nur verstanden, sondern mit der Rückkehr in Kindergärten und Schulen auch berücksichtigt worden. Doch trotz dieser Erkenntnisse ist der Hype zur Digitalisierung unserer gesamten Lebenswelt völlig ungebrochen.

Die Krisengewinnler stehen schon fest, und eines ist klar: die Allgemeinheit gehört so wenig dazu, wie junge und kommende Generationen. Der klimagerechte Umbau unserer Gesellschaft ist trotz des shutdown nicht beschleunigt, sondern ausgebremst worden.

    Standort-
    Auswahlverfahren

Während also Ratschläge, Informationsveranstaltungen, Debatten, Foren, Workshops und Demonstrationen aus den bekannten Gründen unterbleiben mussten, rollt auch das Standortauswahlverfahren für ein nukleares Endlager mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Und die ohnehin nur informatorisch angelegten Teilgebietskonferenzen, in denen der erste Zwischenbericht der Bundesgesellschaft für Endlagerung vorgeblich kommentiert werden kann, werden in weiten Teilen digital oder in Zukunft überhaupt "hybrid" angelegt.

Dabei ist aus einer langen Geschichte des Konfliktes hinlänglich bekannt, dass es stets der direkten Rede und Gegenrede, der physischen Anwesenheit, der Pausengespräche, Sitzungsunterbrechungen und der Nachfrage bedarf, wenn überhaupt beabsichtigt ist, miteinander zu sprechen. Alles unabdingbare Elemente eines demokratischen Diskurses, zu denen im Einzelfall auch der Zwischenruf oder gar der Saalprotest gehören kann. Kommunikation ist ohne Zweifel weitaus mehr, als die Aneinanderreihung geschriebener oder gesprochener Worte. Gestik, Mimik oder auch nur die Stimmung im Saal können einen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf einer Debatte nehmen und sollten dies auch, wenn denn gewünscht ist, die öffentliche Meinung abzubilden und alle mitzunehmen. Im Laufe der Evolution haben wir Menschen eben gelernt, kleinste Signale zu lesen und in Bruchteilen von Sekunden in unsere Deutung einzubeziehen. Dass digitale Kommunikation einen derartigen analogen Austausch nicht zu ersetzen vermag, zeigt schon die Beobachtung, wie leicht Konflikte beispielweise in Emails entgleiten können und durch neue Beiträge nur stetig weiter eskalieren.

Weiterhin ist in Onlineforen die Kritik an einer Moderation oder deren Ablösung ungleich viel schwerer, als im "richtigen Leben", oder effektiv unmöglich, wenn die Forenregeln solches erst gar nicht vorsehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine interessengeleitete Moderation beauftragt wurde und weder Moderation, noch Regeln von den Konfliktparteien gemeinsam ausgehandelt worden sind, sondern einseitig gesetzt wurden.

Zu allem Überfluss soll zur Auftaktveranstaltung der Teilgebietskonferenzen im Oktober das Los entscheiden, wer überhaupt an der Debatte teilnehmen darf, denn die Saalgröße begrenzt in diesen Zeiten natürlich auch die Teilnehmendenzahl. Wer also informiert wird oder womöglich einen Konflikt haben "darf", verkommt jetzt zum Ergebnis eines Glücksspiels. Mensch könnte das fast für ein böses Omen für den Ausgang des Verfahrens halten, wenn wir nicht die Vernunft dazwischen schalten würden. Diese könnte sich darin äußern, unsere Kritik und unseren Protest zu artikulieren und an geeigneter Stelle mit der Lage angemessenen Mitteln vorzutragen. Ich denke, wir sehen uns! Digital, hybrid oder analog, wenn die Abstände eingehalten werden können und die Lage es zulässt.

Und wie geht es uns sonst als Bürgerinitiative in diesen schweren Zeiten? Am schmerzlichsten fehlt uns die Rückkopplung und Beratung mit unserer Basis, also mit unseren Mitgliedern und den vielen Menschen, die uns sonst auf der Straße und andernorts unterstützen. Natürlich nutzen auch wir Online-Formate und Videokonferenzen, die aber aus den genannten Gründen nur Notbehelfe sein können. Eigentlich bräuchte es aber dringend Informationsveranstaltungen, Diskussionrunden, Ratschläge und Demonstrationen. Unter verantwortbaren Bedingungen haben wir eine Mitgliederversammlung durchgeführt. Soweit Hygieneauflagen, Abstandsregeln und die Infektionslage dies zulassen, werden wir auch Kundgebungen durchführen.

Lieber hätten wir die Pandemie abgewartet, aber wir sind leider zum Handeln gezwungen, weil die Behörden unserer Forderung nach einem Moratorium der Endlagersuche für die Zeit von Corona nicht gefolgt sind. Dass die im Gesetz vorgesehenen Teilgebietskonferenzen nun erst im nächsten Frühjahr "richtig" beginnen und in diesem Herbst nur ein Auftakt stattfinden soll, schreiben wir auch diesen unseren Bemühungen zu. Allerdings hat das Bundesamt damit die ohnehin viel zu kurze gesetzliche Beratungszeit von sechs auf vier Monate zusammen gedampft. Auch das kann nicht darüber hinweg täuschen, dass ein Beratungsergebnis der Konferenzen erst dann vorliegt, wenn das Verfahren längst weitergerollt ist und die "Berücksichtigung" dieser Stellungnahme nur noch ein Lippenbekenntnis sein kann.

Im Konflikt um den Atommüll herrscht unvermindert weder Transparenz, noch Augenhöhe, und bislang ist auch keine Änderung in Sicht, denn über Anpassungen des Suchverfahrens müsste der Bundestag entscheiden, der sich derzeit nicht mehr mit der Thematik befasst.

Positiv macht sich trotz alledem für uns bemerkbar, dass unsere Mitglieder und Freund*innen langfristige Bindungen mit uns eingegangen sind und auch eine Pandemie dieses Verhältnis nicht zu zerbrechen vermag. Wir selber bemühen uns auch unter erschwerten Bedingungen um den nötigen Austausch und beraten uns regelmäßig mit den anderen Protagonisten der Umwelt- und anti-Atom-Bewegung. Diese Bemühungen werden wohl auch wahrgenommen und rechtfertigen offenbar das in uns gesetzte Vertrauen. In der Folge erfahren wir viel Unterstützung, Solidarität, Zuspruch und Aufmunterung und fühlen uns auch gut und klug beraten.

Schauen wir also, was dieser Herbst uns bringt und hoffentlich können wir uns bald wieder treffen und sehen – analog, infektionsfrei, solidarisch und kämpferisch!@

 

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