Pandemie und Ungleichheit Der Normalzustand ist das Problem von Britta Rabe, Grundrechte-Komitee Die Corona-Pandemie legt seit Monaten die weltweit herrschenden gesellschaftlichen Ungleichheiten erbarmungslos bloß. Während sich in Europa erst eine erneute Ausbreitung des Corona-Virus andeutet, kostet die Pandemie in anderen Teilen der Welt ungebrochen extrem viele Menschenleben. Insbesondere schwarze Menschen sind davon – nicht nur in den USA – ungleich stärker betroffen, sowohl gesundheitlich als auch materiell. Denn sie haben aufgrund des herrschenden strukturellen Rassismus einen schlechteren Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und sind überproportional häufig von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen. Wie ein Staat mit marginalisierten Gruppen umgeht, sagt viel über den Zustand der Grundrechte und der Demokratie in einem Land aus. Fünf Monate nach dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland müssen wir feststellen, dass die Beseitigung gesellschaftlicher Ungleichheit in der politischen Bewältigung der Corona-Krise kaum eine Rolle spielt. Auch in Deutschland bleiben insbesondere diejenigen Menschen gefährdet, die sich ein Social Distancing schlichtweg finanziell nicht leisten können.
Normalzustand! Die tiefgreifendsten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung waren in Deutschland keine vier Wochen alt, als schon die ersten zur "neuen Normalität" riefen. Vom österreichischen Kanzler Kurz erstmals genutzt, fand der Ausdruck auch in Deutschland sehr schnell Verbreitung in konservativen und wirtschaftsliberalen Kreisen. Es sei jetzt eben normal, dass das private und soziale Leben weitgehend lahmgelegt sei, nun müsse aber zumindest das Schlimmste für die Wirtschaft vermieden werden. Es dauerte nicht mehr lang, bis erste Lockerungen verabschiedet wurden. Am 20. April traten die wohl größte Änderung in Kraft: die Öffnung von Geschäften bis 800m². Während für viele Menschen die aktuellen Lockerungen der Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie tatsächlich eine schrittweise Rückkehr zur "Normalität" bedeuten, herrschte in vielen Wirtschaftsbereichen allerdings die gesamte Zeit über Normalbetrieb. Nicht nur in den "systemrelevanten" Bereichen, wie der Nahrungsmittelproduktion, in der Energieerzeugung oder dem Gesundheitssektor. Auch bei Heckler und Koch oder Rheinmetall wurden aufgrund guter Auftragslage ohne Unterbrechung Waffen produziert. Nicht viel mehr als der möglichst schnellen Rückkehr zu einer altbekannten Normalität entsprechen auch die Forderungen derjenigen, die zunächst im April und Mai – zeitgleich mit den Lockerungen – und jüngst erneut wie etwa in Berlin, verstärkt gegen die Einschränkung ihrer Grund- und Freiheitsrechte – gegen Maskenpflicht und Abstandsregeln – "rebellieren". Genau genommen stehen die Forderungen der "Querdenker" aber ganz im Einklang mit denjenigen Regierungsvertreter*innen, die ökonomische Interessen über die gesundheitlichen Bedenken stellen und sich für eine schnelle Wiederaufnahme der Produktion und die "neue Normalität" einsetzen. Natürlich gab und gibt es mehr als genug Gründe, sich aus grund- und menschenrechtlicher Sicht kritisch mit den Maßnahmen und den massiven Grundrechtseinschränkungen zu beschäftigen und dieser Kritik Ausdruck zu verleihen. Die Eingriffe waren und sind massiv und sehr pauschal, beispielsweise die komplette Aussetzung des Versammlungsrechts. Dies wurde mit guten Gründen vom Bundesverfassungsgericht gekippt, wenn dieses auch ein paar Wochen benötigte bis zu der überfälligen Entscheidung. Auch ausladende Bußgeldkataloge und Strafverfahren wegen Verstößen gegen die Corona-Anordnungen, sowie die Disziplinierung der Bürger*innen durch Polizei und Ordnungsamt sind besorgniserregende Methoden. Bei den schnell von der organisierten Rechten dominierten Demonstrationen wird jedoch immer wieder deutlich: Es geht vielen Anwesenden vor allem um ihre eigenen Befindlichkeiten. Rücksicht auf Angehörige von Risikogruppen oder ein Bezug auf die Folgen der herrschenden Ungleichheiten aufgrund struktureller Bedingungen wird weder auf den Veranstaltungen, noch in Redebeiträgen genommen. Der vergleichsweise sanfte Verlauf der Corona-Pandemie in Deutschland nährte die grundsätzliche Infragestellung von Maßnahmen gegen ein Virus, das "nicht schlimmer als eine Grippe" sei. Verschwörungsmythen, oft mit antisemitischem Unterton, dienten dort als einfache Deutungen der Krise, wo eine grundsätzlichere Kritik an struktureller Ungleichheit, hervorgerufen durch das kapitalistische Wirtschaftssystem, angebracht wäre. Das Verbreiten von Fehlinformationen über das Virus, angereichert mit rechtem und rassistischem Gedankengut, verbreitet sich auch weiterhin im Internet. Die Wirkmächtigkeit der Verschwörungsmythen ist auf der Straße wie auch virtuell höchst gefährlich. Eine Krise hat stets das Potential für einen radikalen Kurswechsel. Der erzwungene Lockdown zu Beginn der Corona-Pandemie zeigte beispielsweise mit der weitgehenden Einstellung des Individualverkehrs per Auto und Flugzeug, wie schnell und umfassend eine Gesellschaft notfalls in der Lage ist, einschneidende Veränderungen vorzunehmen. Was trotz fortschreitender Klimakrise vorher undenkbar schien, wurde aufgrund der weltweiten Pandemie innerhalb kürzester Zeit Wirklichkeit – wenn auch möglicherweise für begrenzte Zeit. Das beschlossene Rettungspaket für die Lufthansa oder der Vorschlag für eine Abwrackpremie für Autos weisen jedoch in eine völlig falsche Richtung, weiterhin einer zerstörerischen Logik folgend. Auch wenn zumindest die Abwrackprämie verhindert wurde, zeigen diese Vorstöße, dass an der propagierten "neuen Normalität" nur wenig Neues ist. Die Rückkehr zum "neuen" Normalzustand bedeutet vielmehr die Festschreibung bestehender Ungleichheiten, basierend auf Rassismus, Patriarchat, ökologischer Ausbeutung und kapitalistisch strukturierter Wirtschaft. Selbst da, wo die fortschreitende Prekarisierung der sozialen Infrastruktur überdeutlich wurde, tut sich im Grunde nichts. So müssen sich Arbeitende im Gesundheitswesen auch lange Zeit nach dem Ausbruch der Pandemie vor allem mit symbolischer Anerkennung durch Händeklatschen und warme Worte zufrieden geben. Ein einmaliger finanzieller Bonus für einen Teil der Arbeitenden in der Pflege wird die permanente Überbelastung nicht ändern. Nur ein am Menschen ausgerichtetes Gesundheits- und Pflegesystem kann dem Grundrecht auf Würde und Leben gerecht werden. Eine tiefgreifende Veränderung im Gesundheits- und Pflegesektor zeichnet sich aber bisher nicht ab. Eine simple Rückkehr zu einer Welt vor Corona kann daher nicht unser Ziel sein, denn sie basiert auf Ungleichheit und Ausgrenzung. Die aktuellen Richtungsentscheidungen zur Bewältigung der Pandemie und ihren ökonomischen Folgen werden aber auf Dauer folgenreich sein, denn die sich abzeichnende weltweite Wirtschaftskrise wird das derzeitige Verteilungsgefälle noch ungleich verschärfen und auf Jahrzehnte festlegen. Vor der Corona-Krise hatten sich an mehreren Orten der Welt Menschen gegen soziale Ungleichheit und Ausbeutung aufgelehnt. Aktuell fordern vor allem in den USA Schwarze Menschen ihre Rechte ein, gegen eine jahrhundertealte Unterdrückung und Deklassierung, die nicht nur dort neben rassistischen Morden in unzähligen Corona-Toten mündet. Der Normalzustand ist folglich das Problem – und nicht die Lösung.@
aus: grundrechtekomitee.de |
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