10 Thesen zur Corona-Pandemie Die "Corona-Kontroverse" aus dem Arbeitskreis "Süd-Nord" der IPPNW Handelt es sich um eine ernste Erkrankung, und wenn ja, wie ist angemessen damit umzugehen? – diese Frage verläuft quer durch politische Lager und Organisationenund betrifft auch uns als IPPNW. Das ist von Belang, weil wir eine Organisation von Ärzt*innen sind und unsere friedenspolitische Glaubwürdigkeit gerade darauf in hohem Maße fußt.Die Autor*innen des vorliegenden Papiers wollen dabei helfen, die emotionalisierte Debatte zu versachlichen, zu strukturieren und ihr vor allem eine gemeinsame medizinische Basis geben, ohne die die Erhebung politischer Forderungen jeder sinnvollen Grundlage entbehrt. THESEN-Papier meint dabei, dass wir damit nicht Wahrheiten behaupten, sondern ein Set von medizinischen, epidemiologischen und politischen Grundannahmen anbieten wollen: Ausgangshypothesen, die eine sinnvolle gemeinsame Basis sein können für dann zu formulierende Kontroversen bezüglich theoretischer und praktischer Schlussfolgerungen. Wer diese Grundlagen nicht teilt, möge gerne entsprechende Antithesen formulieren.
Das neue Corona-Virus SARS-Cov2 sowie die dadurch verursachte Erkrankung Covid-19 – über deren Charakteristika das Robert-Koch-Institut (RKI) einen "Steckbrief" publiziert hat1 – ist eine ernste medizinische Bedrohung, die nach gut 7 Monaten weltweit schon einer 6-stelligen Zahl von Menschen das Leben gekostet hat und dabei ist, weitere Leben zu kosten. Die Zahl variiert je nach Zählweise (WHO, Johns Hopkins University, …) und unterliegt Unsicherheiten (siehe 3.), liegt aber letztendlich in dieser Größenordnung. Da die Infektion oft symptomarm oder symptomlos verläuft2, werden viele Infektionen gar nicht erkannt – je nach Screening-Methode der verschiedenen Länder in sehr unterschiedlicher Größenordnung.
Typisch ist das sehr komplexe Erscheinungsbild, das auch über 6 Monate nach Identifikation des Erregers kaum Vorhersagen über den jeweiligen individuellen und den epidemiologischen Verlauf erlaubt. Bekannt ist z.B., dass außer den Atemwegen auch Gerinnungssystem, Darm, Nieren, Leber, Nerven und Gehirn befallen werden können. Dass vorerkrankte und ältere Menschen ein höheres Risiko haben, bei einer Infektion an SARS-Cov2 schwer an Covid-19 zu erkranken oder zu versterben – und dass schwere und tödliche Verläufe auch außerhalb der Risikogruppen auftreten. Dass Covid-19 schon vor dem Auftreten von Symptomen ansteckend ist. Und dass eine frühere Erkrankung an einem der alten, "banalen" Corona-Viren keine Immunität gegen SARS-Cov2 zu bewirken scheint. Weitgehend unbekannt sind viele Pathomechanismen bei schweren Verläufen, ob Covid-19 eine nachhaltige Immunität bewirkt, wie sie sicher feststellbar ist, welche epidemiologische Rolle Kinder spielen und wie der weitere pandemiologische Verlauf sein wird (weitere Wellen, Gesamtdauer der Pandemie…). Selbst die Hauptwege der Übertragung und die sinnvollsten Schutzmaßnahmen dagegen sind z.T. bis heute nicht völlig geklärt.
Als Covid-19-ToteR gilt einE verstorbeneR PatientIn, bei der/dem Covid-19 als todesursächlich im Totenschein vermerkt wurde. Also keineswegs nur ein Todesfall mit positivem PCR-Test auf SARS-Cov2, wie viele KritikerInnen meinen. In der Praxis bezieht sich die/der den Tod bescheinigende Ärztin/Arzt dabei auf klinische, radiologische, (oft) PCR-und (selten) Obduktions-Befunde. Der PCR-Nachweis kann laut WHO und RKI die Diagnose stützen, ist aber nicht Bedingung. Anmerkung: Die Rate schwer fehlerhafter deutscher T-Scheine wurde in einer Studie der Universität Rostock von 2017 (also vor Covid-19) auf über 25% taxiert. "Schwer fehlerhaft" ist hier allerdings nicht gleichbedeutend mit falscher Diagnose.
An den ab März 2020 praktisch weltweit verhängten Abschottungs-und Stilllegungs-Maßnahmen ("Lock Down") gibt es kein primäres Interesse seitens der ApologetInnen des neoliberalen Gesellschaftsmodells. Vielmehr waren gerade sie es, die frühe Distanz-und Drosselungsmaßnahmen etwa bei Fußballspielen, Faschings-und Wahlkampfveranstaltungen verhinderten. In von Rechts-Populisten wie Trump, Johnson und Bolsonaro regierten Ländern blieb dies besonders lange so, in Italien und Spanien soll diese Verzögerung maßgeblich die hohe Mortalität bedingt haben.
Im Verlauf der so entstandenen Krise stand die Bundesregierung bald vor einer Dynamik, die ihr über den Kopf zu wachsen drohte. Zumal sich nicht vorhersagen ließ, ob die anrollende Pandemie sich zu einer Katastrophe wie die Spanische Grippe von 1918 auswachsen könnte. Im Versuch, dieser nun doch eingeräumten Gefahr etwas entgegenzusetzen, lag die primäre Motivation für den (letztlich global und fast flächendeckend angewandten) Lockdown.
Bald hinzu kam sehr wahrscheinlich das Interesse, die Gelegenheit zu nutzen, Notstandsrecht und Aussetzung demokratischer Kontrolle einmal exzessiv in praxi zu testen (nachdem unter anderem mit Blick auf militärische Planungen in Deutschland 2016 die Bevölkerung aufgefordert worden war, sich erhebliche Trinkwasser-und Nahrungsvorräte zuzulegen.)
Auch wenn einzelne Sektoren wie IT-Branche und Online-Handel z.T. massiv profitieren, schadet der "Lockdown" summa summarum dem neoliberalen Wirtschafts-und Gesellschaftsmodell, seine Auswirkungen bedrohen es sogar existenziell. Auch wenn seine VerfechterInnen bestrebt sind, möglichst viele Kosten und Lasten auf die schwächeren Teile der Gesellschaft abzuwälzen – und dabei auf viel zu wenig Widerstand stoßen. In der Außenwahrnehmung überlagern sich die Folgen dieses Abwälzens mit den Auswirkungen zahlreicher Fehler des Lockdown-Ansatzes, der als neues, einschneidendes und unter Zeitdruck entstandenes Konzept per se stark fehlerbehaftet ist. Schwierig bei der Beurteilung des Lockdown: Nicht nur die Krankheit, sondern auch die Maßnahmen dagegen schaden – und zwar nicht nur der Wirtschaft, sondern vor allem auch den Menschen (Beispiel: Vernichtung von Arbeitsplätzen – was sich in Ländern ohne Sozialversicherung noch weit gravierender auswirkt als hier, siehe 9.). Zudem zu beachten: Beides lässt sich hinterher weit besser beurteilen als vorher.
Ungeachtet aller Kompensationsversuche in Gestalt von Lastenabwälzung (s.o.) und Rettungspaketen: Primär setzt der Lockdown im Handumdrehen die bisher für unverrückbar gehaltenen Wachstums-und Selbstregulations-Dogmen des Marktes außer Kraft (Beispiele sind Drosselung von Flugverkehr und Flugzeugproduktion, Rettungspakete und dafür notwendige Neuverschuldung). Die neoliberalen Dogmen sind auch bei der Bewältigung der Folgen massiv hinderlich, da finanzkapitalistische Mechanismen wie z.B. Börsen die Schwächung von Betroffenen potenzieren statt dämpfen. Dass Giganten wie die Lufthansa plötzlich nur noch durch faktische Verstaatlichung rettbar sind, wird sich auf Dauer nicht verbergen lassen. Hier wird die intrinsische Dysfunktionalität unseres neoliberalen Gesellschaftsmodells offenbar – eine historische Chance zu seiner Überwindung. Diese wird von der Sozialen Bewegung bisher kaum gesehen. Stattdessen wird z.T. erbittert darüber debattiert, ob die Corona-Maßnahmen medizinischen Schutz oder Panikmache bezwecken – u.E. ein Irrweg, der letztendlich dem Erhalt des bestehenden Modells nutzt. Denn seine Überwindung wird durch die Krise keineswegs garantiert – vielmehr besteht, wenn niemand da ist, die/der eine emanzipatorische Alternative formuliert und einfordert, durchaus das Risiko einer Eskalation der bereits bestehenden Herrschaftsverhältnisse – die dann durch Demokratie-Abbau und Auftrieb für rechtsgerichtete HeilsbringerInnen aus unzufriedenen, "systemkritischen" Teilen des Bürgertums heraus in einen neuen Totalitarismus münden könnte (wie es auch zu Weimarer Zeiten zu beobachten war). Die Verwirrung wird zudem dadurch erhöht, dass es unter den "Corona-ZweiflerInnen" neben vielen Rechten und unzufriedenen, aber politisch naiven BürgerInnen auch durchaus Linke gibt – die ebenso wie die Unzufriedenen an eine neoliberale Motivation für den Lockdown glauben (das Fehlen von Primärmotiven verdrängend und ihre Argumentation auf Sekundärphänomene stützend).
Aus unserer Sicht resultiert eine größere Nord-Süd-Dimension, als a priori sichtbar: Übereinstimmung zwischen "Nord" und "Süd" (reichen und armen Ländern) besteht darin, dass es bisher keine kausale Therapie oder Impfung gibt und dass Schutz nur durch strukturierte Abstands-, Hygiene-und Aufklärungsmaßnamen möglich ist. Groß ist der Nord-Süd-Unterschied aber bei den Ressourcen für Diagnostik, Behandlung und epidemiologischer Kontrolle. Und noch größer bei den sozioökonomischen Auswirkungen von Schließungs-und Abstandsmaßnahmen sowie den Reserven, um diese aufzufangen: Der UN-Generalsekretär hat daher vor einer "Pandemie des Hungers" infolge der Covid-19-Pandemie gewarnt. Diese droht vor allem als Folge der Maßnahmen dagegen. Wobei auch Menschen im Norden durch Letztere in wirtschaftliches und psychisches Elend gestürzt werden und dadurch zu Tode kommen. Sodass auch hier eine Abwägung zwischen den Folgen der Erkrankung und denen der Schutzmaßnahmen Not tut, um mehr Nutzen als Schaden zu stiften. Im Süden muss diese Abwägung aus den o.g. Gründen künftig erheblich andere Maßstäbe anlegen. Was nur möglich ist, wenn der letztlich diktatorische Druck der neoliberalen Globali sierung auf die Politik dieser Länder eingedämmt und der Krieg des Nordens gegen den Süden ausgesetzt wird – wenigstens für die Dauer der Pandemie. Konkret bedeutet dies einen Katalog von sieben Punkten:
Dazu gab und gibt es weiterhin mehrere Hypothesen (unter anderem der Fledermaus-Ursprung). Im Interesse wirksamer Eindämmung sollte hier weiter geforscht werden, ohne Denkverbote (etwa bezüglich einer durch menschlichen Einfluss geförderten oder auch menschengemachten Genese).
1. Initiative zur Rettung der WHO vor ihrer Zerstörung – -zum einen vor Forderungen nach ihrer Abschaffung wie seitens der USA -aber auch Deformierung ihres Charakters als UN-basierte Institution in Richtung einer Kapital-und Konzern-Basierung. 2. Quantifizierung der Schäden und insbesondere Zählung der Toten in Deutschland nicht nur durch Covid-19, sondern auch durch die Maßnahmen dagegen.
Christoph Krämer (Chirurg und Viszeralchirurg, Rettungsmedizin) |
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