– Kleine Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen Weniger Sprengkraft, mehr Risiko von Otfried Nassauer Unter Donald Trump verändert Washington die Konzeption nuklearen Abschreckung rasch und mit großer Effizienz. Die USA beginnen erneut über begrenzte, atomare Kriege nachzudenken und dafür geeignete Waffen einzuführen. Nuklearwaffen gewinnen an militärischer und verlieren an politischer Bedeutung. An keiner Waffe wird das so deutlich wie an dem gerade neu eingeführten Sprengkopf niedriger Sprengkraft für U-Boot-gestützte Langstreckenraketen. Dieser vergrößert die nuklearen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der USA massiv. Er wird auch die NATO zu erneutem Nachdenken über nukleare Eskalation und nukleare Teilhabe zwingen. Als die USS Tennessee, ein nukleares Raketen-U-Boot der Ohio-Klasse, Ende 2019 erneut zu einer Patrouillenfahrt aufbrach, markierte dies eine Zäsur für die nukleare Abschreckung der USA. Das U-Boot hatte zum ersten Mal eine oder mehrere Langstreckenraketen vom Typ Trident II D5 an Bord, die einen einzelnen Sprengkopf des neuen Typs W76-2 trugen. Dieser hat eine deutlich kleinere Sprengkraft als die großen Mehrfachsprengköpfe der Typen W76-1 und W88 auf den anderen Trident-Raketen an Bord. Sie beträgt nur etwa acht Kilotonnen, also etwas mehr als der Hälfte der Bombe, die Hiroshima zerstörte. Der W76-2 soll den USA deutlich flexiblere Optionen für begrenzte Nuklearwaffeneinsätzen (Limited Nuclear Options, LNO) auf regionalen Kriegsschauplätzen ermöglichen als die bisherige Standardbewaffnung der strategischen Raketen-U-Boote. Diese können dann neben ihrer traditionellen strategischen Rolle im Kontext eines globalen nuklearen Schlagabtauschs auch eine Rolle in regional begrenzten Kriegen spielen, ganz gleich, ob als Reaktion auf den Einsatz taktischer Atomwaffen durch einen örtlichen Gegner oder im Rahmen eines atomaren Ersteinsatzes (First Use) seitens der USA. Die Möglichkeit, in einem Konflikt als erster zu Nuklearwaffen zu greifen, hält sich Washington bereits seit Jahrzehnten sowohl national als auch in der NATO explizit offen. Das Ziel, einen solchen Sprengkopf einzuführen verfolgt die Administration von Donald Trump von Anbeginn an. Im Januar 2018 verabschiedete sie eine National Defense Strategy, die die Wiederkehr einer Großmächtekonkurrenz mit Russland und China proklamierte, aber auch versprach, kleinere Konflikte wie jene mit Nordkorea und dem Iran nicht aus dem Auge zu verlieren. Diese Prioritätensetzung prägte wenig später auch Trumps Nuclear Posture Review und dessen Konzept einer maßgeschneiderten Abschreckung, jeweils zugeschnitten auf diese potentiellen Gegner. Aus der Addition der dafür künftig notwendigen nuklearen Fähigkeiten wurde die Notwendigkeit abgeleitet, mehr vorhandene Nuklearwaffen weiter in Dienst zu halten als bisher vorgesehen, die vorhandenen Pläne für eine umfassende Modernisierung der vorhandenen atomare Trägersysteme und Sprengköpfe und der nuklear-industriellen Infrastruktur weiterzuführen und zu beschleunigen, sowie zwei nukleare Fähigkeiten neu einzuführen: Einen seegestützten Raketensprengkopf kleiner Sprengkraft und neue nukleare seegestützte Marschflugkörper. Zwei Jahre später ist der Sprengkopf kleiner Sprengkraft für U-Boot-Raketen stationiert und einsetzbar. In einem ersten kleinen Kriegsspiel des Strategischen Oberkommandos der USA wurde im Februar 2020 erstmals der Einsatz in Reaktion auf einen russischen Ersteinsatz in Europa simuliert. Die Gründe dafür, dass die Einführung dieses Sprengkopfs so viel schneller als üblich realisiert werden konnte, sind leicht zu identifizieren: Die U-Boote der Ohio-Klasse sind schon lange im Dienst und erprobt. Für die Trägerraketen des Typs Trident-II-D5 gilt das auch. Nur einige wenige der vorhandenen, gerade in Modernisierung befindlichen Sprengköpfe vom Typ W76 mussten dafür abgeändert und die Sprengkraft auf wenige Kilotonnen reduziert werden. Auch dafür gab es schon ein Vorbild, das unter Mitwirkung der USA vor Jahren entstand. Großbritannien nutzt an Bord seiner von den USA geleasten Trident-Raketen schon lange einen aus dem W76 abgeleiteten nicht-strategischen Atomsprengkopf kleinerer Sprengkraft als Ersatz für seine 1998 aufgegebenen Atombomben vom Typ WE 177. Diese offenbar technisch funktionierende Lösung dürfte als Vorbild für den W76-2 genutzt worden sein. Man verzichtet darauf, den für das Erreichen der maximalen Sprengstärke verantwortlichen zweiten nuklearen Sprengsatz des W76, das sogenannte Secondary, zur Explosion zu bringen. Nur der kleinere nukleare Zündsprengsatz, das Primary, wird noch gezündet. Dann sinkt die Sprengkraft auf wenige Kilotonnen. Diese Lösung war offenbar auch günstig: Kostet die Modifikation eines vorhandenen atomaren Sprengkopfs zu einer neuen Version meist etliche Milliarden Dollar, so wurden für den W76-2 von Pentagon und Energieministerium zusammen Kosten von weniger als 100 Mio. Dollar beantragt, verteilt auf die Haushaltsjahre 2019 bis 2023. Experten erwarten, dass nur etwa 50 Exemplare von der neuen Sprengkopfvariante gebaut werden sollen und auch nicht alle der 14 U-Boote der Ohio-Klasse damit ausgestattet werden. Da der Großteil der Kosten beim Pentagon anfällt, ist davon auszugehen, dass das Energieministerium seinen Kostenanteil aus dem vorhandenen Budget für die Modernisierung von W76-Sprengköpfen zur Version W76-1 begleichen konnte. Schließlich traf das Vorhaben auch im US-Kongress aus zwei weiteren Gründen auf vergleichsweise geringen Widerstand: Das waren zum einen die geringen Zusatzkosten und zum anderen betrug die Sprengkraft mehr als fünf Kilotonnen und rief deshalb keine neue Debatte über Sprengköpfe kleinster Sprengkraft hervor, die sogenannte Mininukes. Mit den Haushaltsanträgen für 2021 hat die Trump-Administration deutlich gemacht, dass sie das Konzept kleiner atomarer Sprengköpfe längerfristig mit Verve verfolgen will. Der Budgetvorschlag enthält erstmals Mittel in Höhe von $53 Mio. für Konzeptstudien zu einem künftigen, flexibel abwandelbaren atomaren Sprengkopf vom Typ W93/MK7. Diese Kombination aus einem Sprengkopf neuer Bezeichnung und einem neuen Wiedereintrittsflugkörper soll im nächsten Jahrzehnt ältere Trident-Sprengköpfe ablösen, vorrangig wohl den W76 in seinen verschiedenen Versionen, und zudem – wie schon der W76 - Grundlage für eine neue Generation britischer Trident-Sprengköpfe werden. Damit erhält das Vorhaben legitimatorisch die höheren Weihen bündnispolitischer Solidarität gegenüber Großbritannien. Die Aussicht auf eine Bewilligung im Kongress wird besser. Bis 2025 sollen bereits mehr als 1,8 Mrd. Dollar bereit gestellt werden. Noch sind die technischen Eckwerte für diesen Sprengkopf nicht festgeschrieben. Eine umfassende Studie soll zunächst die technisch möglichen Optionen aufzeigen, so der Auftrag des interministeriellen Nuclear Weapons Councils. In diesem Kontext soll auch geprüft werden, ob nukleare Komponenten vorhandener Sprengköpfe erneut genutzt werden können. Die Chefin der für die Entwicklung und Modernisierung nuklearer Sprengköpfe zuständigen National Nuclear Secutrity Agency, Gordon-Hagerty, war vor dem Unterausschuss für Strategische Streitkräfte des Streitkräfteausschusses des Repräsentantenhauses bemüht, intensive Debatten zu meiden. Man plane – abhängig von den Ergebnissen der Studie - keine neuen Atomwaffentests und werde - wenn möglich – auf nukleare Komponenten zurückgreifen, die bereits für eingeführte Sprengköpfe getestet wurden. Auf die Frage, ob es sich um einen "neuen Sprengkopf" handele, wurde ausweichend geantwortet. Da der W93/MK7 erneut als Basis für eine neue Generation britischer Trident-Sprengköpfe dienen soll, ist davon auszugehen, dass britische Anforderungen an dessen Fähigkeiten in das Entwicklungsvorhaben einfließen werden und zusätzliche Anforderungen generieren können. Dass Großbritannien sich bereits auf eine solche Zusammenarbeit mit den USA festgelegt hatte, erfuhr die überraschte britische Öffentlichkeit von Mitarbeitern der Trump-Administration, nicht von ihrer eigenen Regierung. Dem britischen Verteidigungsminister Ben Wallace blieb keine andere Wahl als verklausuliert am 25. Februar 2020 zu bestätigen, dass bereits eine Zusammenarbeit mit den USA vereinbart worden sei. Er teilte mit: "Wir werden weiterhin eng mit den USA zusammenarbeiten um sicherzustellen, dass unsere Nuklearsprengköpfe mit dem strategischen Waffensystem Trident kompatibel bleiben." Die Beschaffung von "Ersatzsprengköpfen" werde Gegenstand sowohl der Beschaffungsplanung als auch der dafür erforderlichen politischen Zustimmungsprozesse in Großbritannien sein.
Eine fragwürdige Rechtfertigung Fragt man in den USA, warum die Einführung seegestützter kleiner Atomsprengköpfe so dringlich sei, so erhält man meist ideologisch motivierte, nukleartheologische Antworten. Die konservative US-Debatte über russische Atomwaffen ist von der These geprägt, Russland verfolge eine Strategie der "Eskalation, um seine Gegner zur Deeskalation zu zwingen" (escalate-to de-escalate). Will man genaueres wissen, so ist oft folgendes Szenario zu hören: Russland habe den Ersteinsatz kleiner, taktisch-nuklearer Waffen zum Bestandteil seiner Militärdoktrin gemacht. Geheime Manöverauswertungen hätten gezeigt, dass Moskau plane, im Fall einer militärischen Konfrontation – zum Beispiel im Baltikum - als erste Konfliktpartei kleine Atomwaffen einzusetzen und darauf zu spekulieren, dass Washington keine geeignete nukleare Reaktionsmöglichkeit besitze. Die Atomwaffen der USA seien entweder viel zu groß um deren Einsatz zu rechtfertigen oder es gebe recht effektive Abwehrmöglichkeiten. Moderne russische Flugabwehrsysteme könnten zum Beispiel die nuklearfähigen Jagdbomber der NATO abfangen. Washington werde deshalb eher einlenken als eine Eskalation auf die strategisch-nukleare Ebene zu riskieren. Als Strategie des "Escalate to de-escalate" lässt sich ein solches Szenario öffentlichkeitswirksam verkaufen. Doch der Blick in die russische Militärdoktrin lässt nur zwei Fälle erkennen, in denen der Einsatz von russischen Atomwaffen erfolgen könnte: Erstens in Antwort auf einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen gegen Russland oder seine Verbündeten und zweitens in Antwort auf einen konventionellen Angriff, der die staatliche Existenz der Russischen Föderation (nicht aber deren Verbündeter – der Verfasser) gefährdet. In diesem Fall ist auch ein Ersteinsatz nicht ausgeschlossen. Da dieser zweite Fall die Gefährdung der staatlichen Existenz Russlands voraussetzt, sind die Bedingungen für einen möglichen Ersteinsatz deutlich enger gefasst als in der NATO oder den USA. Beide Aussagen stehen darüber hinaus in der Tradition des sowjetischen Denkens über die kriegsverhindernde Rolle von Kernwaffen. Der Ursprung der escalate to de-escalate Lesart liegt wohl in der US-Debatte. Dort unterstellen konservative Nukleartheologen ihren russischen Antipoden offenbar ihre eigenen, auf spieltheoretischer Grundlage entwickelten Ansätzen und begründen so, dass die von ihnen für notwendig gehaltenen Atomwaffen kleinerer Sprengkraft unbedingt beschafft und eingeführt werden müssen.
Kriegführungsfähigkeit Fragt man, was die USA tun könnten, um in einem "escalate to de-escalate" Szenario die nukleare Abschreckung glaubwürdiger zu machen, so lautet die Antwort meist: Die USA brauchen prompt, flexibel über große Entfernungen einsetzbare Kernwaffen kleiner Sprengkraft, mit deren Einsatz sie glaubwürdig drohen können und gegen die es keine wirksame Verteidigung gibt. Abschreckung sei eine Frage der glaubwürdigen Fähigkeit, einen atomaren Krieg tatsächlich führen zu können. Unverwundbar auf U-Booten stationierte ballistische Raketen großer Reichweite und mit einem kleinen Sprengkopf seien dafür besonders gut geeignet. Der kleine Sprengkopf auf strategischen Raketen-U-Booten erfüllt Nukleartheoretikern, Militärstrategen, Generalen und Admiralen einen lange gehegten Wunsch, die glauben, dass Abschreckung nur glaubwürdig ist, wenn sie sich auf vorhandene und glaubhaft einsetzbare militärische Fähigkeiten abstützen kann, einen Krieg mit atomaren Waffen auch führen zu können. Also den Verfechtern einer Kriegführungsabschreckung. Anhängern einer Abschreckung, die auf Kriegsverhinderung zielt, für die Nuklearwaffen vor allem eine politische, den Ausbruch von Kriegen verhindernde Rolle haben, treibt ein solcher Sprengkopf dagegen eher Schweißperlen auf die Stirn. Das ist aus mehreren Gründen so: Zum einen befürchten sie, dass die Hemmschwelle vor einem Nuklearwaffeneinsatz sinkt, wenn die Waffen eine kleine Sprengkraft haben und aufgrund ihrer hohen Zielgenauigkeit versprechen, deutlich geringere Kollateralschäden hervorzurufen. Für den Besitzer solcher Waffen könnte der Anreiz steigen, diese als erster einzusetzen, um den Gegner durch einen begrenzten Nuklearschlag vor die Wahl zu stellen, entweder keine nukleare Antwort zu geben reagieren oder die Auseinandersetzung auf die Ebene eines globalen Atomkriegs zu eskalieren. Dann könnte man selbst ein "escalate to de-escalate" Szenario schaffen. Schließlich könnten solche Waffen auch zu der Hoffnung verleiten, nukleare Konflikte auf Kriegsschauplätze wie Europa oder die koreanischen Halbinsel zu begrenzen und die USA davon abkoppeln zu können. Dies alles verbindet sich mit der Logik der Kriegführungsabschreckung. Es kann deshalb auch nicht verwundern, dass das US-Militär seit 2019 seit 15 Jahren erstmals wieder über eine teilstreitkraft-übergreifende Grundlagenvorschrift für "Nukleare Operationen", die JP3-72, verfügt. Auch sie atmet den Geist der Kriegführungsabschreckung.
Die Veränderungen in der Nuklearpolitik unter Donald Trump werden nicht ohne Auswirkungen auf die NATO und auf deren System der Nuklearen Teilhabe bleiben. Dafür gibt es bereits drei Anzeichen. Zum einen hat der Militärausschuss der NATO 2019 eine neue NATO-Militärstrategie verabschiedet, über die der NATO-Oberbefehlshaber, General Wolters, erfreut feststellte, sie "sehe sehr ähnlich aus wie die Nationalen Verteidigungsstrategie" der USA. Das Dokument mit dem Titel "Comprehensive Defense and Shared Response" ist als geheim eingestuft. Zum zweiten haben die USA im Herbst 2019 wahrscheinlich die technischen Sicherheitsvorkehrungen an Bord ihrer in Deutschland gelagerten nuklearen Bomben sowohl im Blick auf die Hardware als auch bezüglich der Software verbessert. Dazu wurden wahrscheinlich die bisher in Deutschland gelagerten Waffen ausgetauscht. Diese "Use-Control" bzw. Use-Denial-Systeme sollen garantieren, dass die Waffen nur explodieren können, wenn sie bei exakt den Missionen eingesetzt werden, für die sie der US-Präsident freigegeben hat. In allen anderen Fällen sollen sich die Waffen selbst unbrauchbar machen. Für das 2019 beginnende US-Haushaltsjahr 2020 war schon vor zehn Jahren ein solches Upgrade vorgesehen. Es erforderte Änderungen, die nur in den USA vorgenommen werden können. Schließlich konfrontiert die Stationierung der Trident-Raketen mit W76-2 Sprengköpfen die NATO mit der damit verbundenen Zäsur. Denn die Ausgangslage für europäische Wünsche nach Mitspracherechten beim Einsatz atomarer Waffen in Europa verändert sich grundlegend. Während des Kalten Krieges und im Grundsatz bis in das vergangene Jahr, ließen sich europäische Mitsprachewünsche im Hinblick auf Atomwaffeneinsätze in Europa immer mit mindestens einem der folgenden Argumente begründen:
Im Kern galt: Sollte der Zusammenhalt in der NATO nicht komplett riskiert werden, so mussten sich die Regierungen diesseits und jenseits des Atlantiks ins Benehmen setzen. Der US-Präsident traf die letzte Entscheidung über die Freigabe nuklearer Waffen. Ohne Konsultation mit oder gar gegen den erklärten Willen der betroffenen europäischen Staaten, konnten atomare Waffen aber auch nur um den Preis eines potentiellen Zerfalls der NATO eingesetzt werden. Dies galt im politischen Sinn unabhängig davon, ob die europäischen Staaten in der NATO oder in ihrem bilateralen Verhältnis zu den USA je im juristischen Sinn ein Mitsprache- oder Mitentscheidungsrecht hatten. Künftig ist das grundlegend anders: Seit der Stationierung der ersten Trident-Raketen mit Sprengköpfen vom Typ W76-2 können die USA aus internationalen Gewässern von einem US-Boot eine US-Rakete mit einem einzigen US-Sprengkopf als bevorzugtes Mittel eines begrenzten atomaren Ersteinsatz nutzen und dabei noch wählen, ob das Ziel dieses Einsatzes auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes liegt. Da US-Raketen-U-Boote der NATO auch in Krise und Krieg nicht mehr unterstellt werden, braucht Washington jetzt keinerlei europäisches Mittun mehr, wenn es die Schwelle zu einem auf den europäischen Kriegsschauplatz begrenzten Nuklearwaffeneinsatz überschreiten will. Das macht, gerade weil es den nuklearen Ersteinsatz und damit das Überschreiten der nuklearen Schwelle betrifft, die Zäsur aus. Schon als die NATO in den späten 1960er Jahren begann, detaillierte Konsultationsmechanismen für den Nuklearwaffeneinsatz einzuführen, war dies der zentrale Diskussionsgegenstand. Es entstanden zwei Dokumente. Das eine betraf generelle Richtlinien für Konsultationen über Fragen des NATO-Einsatzes atomarer Waffen. Das andere zielte auf eine zentrale Einzelfrage, Konsultationen über den erstmaligen Einsatz (initial use) nuklearer Waffen durch die NATO, also das Überschreiten der nuklearen Schwelle. Dieses Papier betraf damit zugleich die Frage nach dem Primat der Politik und nach der politischen Kontrolle über die militärische nukleare Planungen. Zweifellos war das aus europäischer Sicht die wichtigste Frage, bei der man mitreden oder mitentscheiden wollte. Wann und in welcher Form soll ein erster Einsatz nuklearer Waffen erfolgen? Die NATO hielt sich ja wie die USA auch die Möglichkeit eines Ersteinsatzes offen (first use).
"Deutschland bleibt über die nukleare Teilhabe in die Nuklearpolitik und die diesbezüglichen Planungen der Allianz eingebunden. So steht es im Weißbuch der Bundesregierung aus dem Jahr 2016 und so gilt es bis heute. Die Bundesregierung will die deutsche Beteiligung an der nuklearen Teilhabe fortzusetzen. Das Verteidigungsministerium drängt deshalb auf eine rasche Beschaffung von 30 Flugzeugen des Typs F18-F, die den Tornado ablösen sollen. Dieser Flugzeugtyp muss jedoch noch für den Einsatz als nuklearer Jagdbomber zertifiziert werden. Unklar ist, ob die F-18F anders als der Tornado alle zusätzlichen operativen Möglichkeiten der modernisierten Atombombe B61-12 nutzen könnte, wie zum Beispiel deren deutlich verbesserte Zielgenauigkeit und die Fähigkeit zum Einsatz gegen verbunkerte Ziele. Die Stationierung dieser Bombe soll in wenigen Jahren beginnen. Sie wird über hochmoderne Use-Control-Features verfügen, die möglicherweise indirekt auch die technische Einsetzbarkeit von Jagdbombern in der nuklearen Rolle so einschränken, dass diese nicht mehr als primäres Mittel für einen nuklearen Ersteinsatz und das Überschreiten der nuklearen Schwelle gelten können. Die Beschaffung neuer Trägerflugzeuge für die nukleare Teilhabe ist jedoch mit Kosten von mehreren Milliarden Euro verbunden, der Betrieb wird weitere Milliarden benötigen. Das Vorhaben wirft also eine bislang nicht gestellte Frage auf: Ist es sinnvoll, Milliarden für neue Flugzeuge auszugeben, wenn die nuklearen Teilhabe keine Rückversicherung mehr dagegen darstellt, dass die USA einen auf Europa begrenzten Ersteinsatz nuklearer Waffen in Europa auch gegen den Willen der Europäer und mit nationalen substrategischen Mitteln durchführen können? Vielleicht war diese Aussicht der Anlass dafür, dass der amerikanische NATO-Oberbefehlshaber Wolters sich vor dem Kongress kürzlich als als "Anhänger eines flexiblen Ersteinsatzes" bezeichnete. Was aber unterscheidet einen flexiblen Ersteinsatz von einem normalen Ersteinsatz? Die mit der nuklearen Teilhabe verbundene Erwartung der Europäer, man könne gegebenenfalls Einfluss auf einen Ersteinsatz von US-Atomwaffen nehmen, dürften durch die Modernisierung des Nukleararsenals der USA wohl hinfällig werden. Damit wird der geplante Kauf von nuklearfähigen US-Kampfflugzeugen aber auch zu einem Selbstbetrug. Er erfüllt seinen eigentlichen Sinn nicht mehr.@ aus: Wissenschaft & Frieden 2‘ 2020 |
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