Teil 25 aus dem Corona-Tagebuch

Zeit der Monster

von Götz Eisenberg

Gelegentlich erzählte Robert Walser seinem Vormund Carl Seelig auf ihren gemeinsamen Wanderungen von seinem Spitalaufenthalt. Einmal sagte er: "Es gefiel mir im Krankenzimmer ganz gut. Man liegt wie ein gefäll­ter Baum da und braucht kein Glied zu rühren. Alle Wünsche schlafen wie vom Spielen müde gewordene Kinder ein." Wie bin ich Robert Walser für Sätze wie diese dankbar! Oder für diesen hier, der sich in den Bänden Aus dem Bleistiftgebiet findet: "Heute spielen sowohl Probleme wie hierzu passende seriöse Gesichter eine hervorragende Rolle."

Bei der ganzen Lockerungsdebatte geht es im Kern um die Frage: Hat sich die Lage soweit entspannt, dass die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit nicht mehr nötig sind? Oder wäre es aus epidemiologischer und virologischer Perspektive sinnvoll, den sogenannten Lockdown noch eine Zeit lang aufrechtzuerhalten? Wäre Letzteres der Fall, müsste man die nun allenthalben eingeleiteten Lockerungsschritte als Rückkehr des Primats der Ökonomie interpretieren. Die Politik ist eine Weile mit der Medizin fremdgegangen, nun aber fordert der Stammkunde energisch seine Rechte ein. Gestern Abend sah ich im Fernsehen Dieter Kempf, den Präsidenten der Bundesvereinigung der Industrie, wie er – ein klein wenig schüchtern noch – die Rückkehr zum Normalmodus einforderte. "Sterben für die Wirtschaft" titelte die Zeitung junge Welt am Wo­chenende. Es bedürfte jetzt der energischen Intervention einer aufgeklärten Öffentlichkeit, um zu verhindern, dass die Politik sich wieder entmachten lässt und vor der Wirtschaft zu Kreuze kriecht. Leider sind solche Kräfte nicht in hinreichender Stärke erkennbar. Die Politiker haben Angst vor dem "Volk" und seinem Zorn, der sich wieder einmal nach rechts wendet. Sie verfahren nach dem unausgesprochenen Motto: "Lieber eine zweite Welle von Covid-19, als ein Anwachsen der AfD!"

Bei einem länger währenden Lockdown könnten Menschen auch auf die Idee kommen, dass das gesellschaftliche Zusammenleben ganz anders, jenseits von Privateigentum und Profit, organisiert werden könnte, dass man ganz anders leben kann, ohne entfremdete Arbeit als Vollzeitbeschäftigung, mit weniger Konsum und dafür mehr Zeit zum Leben.

Die Menschen könnten begreifen, dass das Bedürfnis, alle zwei Jahre ein neues Auto und ein neues Handy zu kaufen, nur von ihrer Unterwerfung zeugt und dass das Habenwollen insgesamt Ersatzbefriedigung für das ist, was man ihnen vorenthält. Es könnte am Horizont die Möglichkeit einer Gesellschaft aufschei­nen, in der die Zerstörung der Natur zurückgenommen ist und in der das Be­dürfnis nach Stille, nach Schönheit zum bestimmenden Bedürfnis wird. Die Möglichkeit einer solchen Gesellschaft muss mit allen Mitteln blockiert werden. Das scheint bis auf Weiteres auch gelungen zu sein.

Forscher der Harvard University haben auf der Basis von Daten des Robert­-Koch-Instituts herausgefunden, dass die 15-bis 24-Jährigen am meisten für die Verbreitung des Covid-19-Virus tun. Dadurch, dass sie sich weniger an das Kontaktverbot und die Abstandsregel hielten, betätigten sie sich als "Treiber der Pandamie". Um das herauszufinden, braucht man nur mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen. Aber das zählt ja nicht, Wissenschaft beharrt auf Zahlen und Statistik.

In den letzten Tagen versammeln sich auch die Pokémon-Idioten wieder in größeren Gruppen unter freiem Himmel. Wahrscheinlich haben sie in den letz­ten Wochen unter Entzugserscheinungen gelitten und erleben die Möglichkeit zur Pokémon-Jagd als große Freiheit. Auf dem Gehweg vor der Kirche bin ich heute auf eine verlorengegangene Stoffmaske gestoßen. Bald werden Masken überall herumliegen, wie im Winter einzelne Handschuhe.

Die Stimmung gegenüber den Virologen kippt. Die anfängliche Idealisierung weicht mehr und mehr aggressiver Verächtlichmachung und Beschimpfung. Eine insgesamt gereizte Stimmungslage breitet sich aus. Das war am Montag auch in der Sendung Hart aber fair zu beobachten. Der Restaurantbesitzer und Sternekoch Alexander Herrmann forderte massiv weitere Lockerungen, vor allem natürlich für die Gastronomie, und attackierte die Virologen, die nur noch Verwirrung stifteten und sich untereinander nicht einig seien. Die in der Sendung anwesende Virologin Melanie Brinkmann verteidigte ihren Berufs­stand und versuchte zu erklären, warum man mit der gewünschten Eindeutig­keit vorerst nicht dienen könne. Die Lage sei für alle neu, man wisse Vieles noch nicht und benötige einfach noch Zeit für Forschung. Sie könne nachvoll­ziehen, dass das für viele Menschen schwer auszuhalten sei, die im Interesse des Fortbestandes ihres Geschäfts Klarheit bräuchten. Sympathisch fand ich den Auftritt von Ulrich Matthes, der auf die Not von Kinos, Theatern und Künstlern hinwies und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Unterstützung der Kultur hielt.

Auch bei Lanz am Mittwoch die gleiche Polarisierung. SPD-Politiker Sigmar Gabriel und die Welt-Journalistin Dagmar Rosenfeld besetzten den Pol der Lo­ckerungsbefürworter, der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar den Pol der medizinischen Vernunft. Er sagte, man hätte den Lockdown noch zwei bis drei Wochen aufrechterhalten sollen, um die Infektionszahlen weiter zu senken. "Wir gehen einen Weg, der unklug ist und der falsch ist", warnte er. Politik müsse den Mut aufbringen, Entscheidungen zu treffen, die nicht populär seien, aber dennoch richtig und vernünftig. Yogeshwar – ein Rufer auf verlorenem Posten?

Die Virologen wird nun mehr und mehr das Schicksal des Boten von Marathon ereilen: Sie werden für die Nachricht bestraft, die sie zu überbringen haben. Man hätte es anfangs schon ahnen können: Der Idealisierung folgt die ag­gressive Entwertung auf dem Fuß. Man ist verärgert darüber, dass die strengen Eltern den Hausarrest nicht komplett aufheben und grünes Licht für eine Rückkehr in den "Normalmodus" geben. Enttäuscht wenden sich viele Menschen von Wissenschaft und der ihr folgenden Politik ab und suchen ihr Heil bei Verschwörungstheorien, die reichhaltig in Umlauf sind. Noch die abstrusesten Thesen finden gläubige Anhänger. Es bestätigt sich eine alte Erfahrung: In Krisenzeiten stirbt die Vernunft. Krisen sind sozialpathologische Situationen, in denen lebensgeschichtlich erworbene Stabilitätsfaktoren dramatisch versagen und Unsicherheit und Desorientierung grassieren. Massenhaft flackert etwas von der Panik auf, die den Bauern befiel, als er den Kirchturm seines Dorfes nicht mehr sehen konnte. Die gewohnten Deutungsmuster versagen und man kann sich keinen Reim auf das machen, was einem zustößt.

Massen von Menschen fallen aus ihrer gewohnten Ordnung der Dinge, eingespielte innere Gleichgewichtszustände geraten aus dem Lot. In seiner Not greift man zu jedem Strohhalm, der einem hingehalten wird und Entlastung verspricht. In einer Situation, in der Differenzierungsvermögen und Ambivalenztoleranz gefordert wären, wächst das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen und übersichtlichen Freund-Feind-Verhältnissen. Demokratie hat eine relative Angstfreiheit zur Voraussetzung, die reife Ich-Funktionen wie Symbolisierungs-und Sublimierungsfähigkeit, Frustrationstoleranz, Geduld und Langsicht stützt und gedeihen lässt. Steigt der Angst- und Panikpegel über einen gewissen Stand, flammen archaische Spaltungsneigungen wieder auf, und es setzt eine kollektive Regression auf einfachere Mechanismen der psychischen Regulation ein. Rechte und andere Rattenfänger haben einfaches Spiel. Vor beinahe einhundert Jahren formulierte der italienische Kommunist Antonio Gramsci aus dem faschistischen Kerker heraus einen erschreckend aktuellen Satz: "Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren; es ist die Zeit der Monster."

Heute morgen hörte ich vom Bett aus durch die geöffnete Balkontür die ersten Mauersegler, die kreischend um den Block rasten. Ihre Ankunft kündet vom nahenden Sommer. An der Lahn ließ mich ein Storch bis auf zehn Meter an sich herankommen. Erst dann schwang er sich in die Lüfte und flog davon. Ich folgte ihm mit den Blicken und sah, wie er nach einigen Schleifen im Wipfel einer riesigen Tanne am Flussufer landete, wo sich das ausladende Storchennest befindet. Ich konnte erkennen, dass mehrere Schnäbel sich ihm hungrig entgegen reckten. Auf dem Rückweg kam ich aus großer Nähe in den Genuss eines Nachtigallen-Solos, dem ich eine Weile lauschte. Ein Falke stand rüttelnd über einer Wiese. Er ging fürs Erste leer aus.

Auch sie haben immer größere Mühe, ausreichend Nahrung zu finden. Reich beschenkt mit Eindrücken kehrte ich nach Hause zurück und setzte mich an meine nicht endende Durchhalteprosa. @

auf: gew-ansbach.de

 

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