Über den Versuch, Verantwortliche zur Verantwortung zu ziehen:
ein Grußwort aus Japan


Für eine Welt ohne Atomanlagen

von Ruiko Muto

Acht Jahre ist es nun her, seit die Katastrophe um das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi am 11. März 2011 ihren Anfang nahm. Ihnen allen möchte ich für Ihre kontinuierliche Aufmerksamkeit und Unterstützung danken. Ich bin auch dankbar für Ihre nachhaltigen Bemühungen, Atomkraftwerke auf der ganzen Welt stillzulegen. Während der Jahrestag näher rückt, erfassen mich unweigerlich die Erinnerungen an die Katastrophe und halten mir immer wieder vor Augen, dass die Ungerechtigkeit und das Leid, die der Unfall mit sich gebracht hat, nie verschwunden sind.

Das vergangene Jahr 2018 war für mich ein sehr bedeutsames. 2012 wurden drei ehemalige Führungskräfte der Tokyo Electric Power Company (TEPCO) vor Gericht gestellt, um sie wegen ihrer juristischen Verantwortung für den Unfall strafrechtlich zu belangen. Im Jahr 2018 fanden 35 Verhandlungstermine statt, und ich war während dieses Verfahrens im Gerichtssaal; zahlreiche Tatsachen, die zuvor unbekannt waren, wurden offenbart. Inzwischen ist klar geworden: es gab die Einschätzung eines Regierungskomitees zur Wahrscheinlichkeit eines Tsunami, der durch ein schweres Erdbeben vor der Küste der Präfektur Fukushima ausgelöst würde. Daraus leitete sich die Notwendigkeit eines Maßnahmenbündels ab, die schon vor 2011 einige TEPCO-Mitarbeiter dazu veranlasste, an Präventivmaßnahmen zu arbeiten, nachdem sie die Höhe eines Tsunami bis zu 15,7 Meter berechnet hatten.

Die damaligen Führungskräfte, die solche Informationen bereits mehrfach erhalten hatten, haben jedoch keine Maßnahmen ergriffen und das Kraftwerk ungeschützt weiterlaufen lassen. Diese Tatsache wurde durch verschiedene Zeugnisse und Dokumentationen wie E-Mails und Minutenbücher belegt. Die Angeklagten wiederholten lückenhafte Erklärungen und sagten: Ich habe sie weder gesehen noch gehört. Ich erinnere mich nicht. Ich hatte dafür keine Befugnis." Ende letzten Jahres sagten die Staatsanwälte in ihrem Schlussplädoyer: "Die Angeklagten haben sich geweigert, ihre Verantwortung für die Katastrophe zu übernehmen, und haben immer versucht, sie auf andere zu schieben", und fügten hinzu: "Es war eine unvertretbare Haltung für Spitzenkräfte der Nuklearindustrie" und für solche "finden wir keine mildernden Umstände".

Die Staatsanwälte forderten eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren für alle drei Angeklagten, was die Höchststrafe für berufliche Fahrlässigkeit mit Tod und Verletzung ist. Das Urteil kann in diesem Sommer nach Abschluss des Prozesses mit dem letzten Wort der Angeklagten, verkündet werden. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass ein strenges und faires Urteil gefällt wird, damit sich eine solche Tragödie nie wiederholt. Ich wäre dankbar, wenn sich Menschen auf der ganzen Welt für diesen Fall interessieren würden.

Wir stehen jetzt vor neuen Problemen in Fukushima. Auf dem Gelände des zerstörten Kraftwerks werden derzeit über 1 Million Tonnen tritiumkontaminiertes Wasser gelagert. Während der Vorsitzende der japanischen Nuclear Regulation Authority (NRA)darauf dringt, diese Mengen ins Meer zu entlassen, haben viele Anwohner in offiziellen öffentlichen Anhörungen ihre Stimme gegen diese Idee erhoben und die Behörde aufgefordert, sie weiterhin vor Ort zu lagern. Auch die lokale Fischereiindustrie ist entschlossen, sich der Verklappung zu widersetzen. Aber auch nach der vom Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie organisierten Debatte zu diesem Thema am 28. Dezember 2018 wurden unsere Ansichten überhaupt nicht berücksichtigt.

Unterdessen legte die NRA einen Plan vor, nach dem in der Präfektur Fukushima 2400 Strahlungsüberwachungsposten abgebaut werden sollen. Davon ausgenommen sind 12 Gemeinden in Gebieten, die als evakuiert gekennzeichnet sind. Es wurde eine Bürgerinitiative gegen diesen Plan gebildet, und auf lokalen Briefings lehnten viele Menschen, darunter auch Mütter von kleinen Kindern, diesen Plan ab. Rund ein Drittel der Gemeinden in der Präfektur Fukushima haben die japanische Regierung schriftlich gebeten, die Überwachungsposten zu behalten.

Obwohl einige Überprüfungsprogramme, die versuchten, die Wiederverwendung von kontaminierten Boden herbeizuführen, durch heftigen Widerstand der Anwohner blockiert wurden, werden ähnliche Versuche an anderer Stelle unternommen. In der Gemarkung Iitate, deren meiste Flächen außerhalb des Radius von 30 km um das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi liegen, ist geplant, kontaminierten Boden für die Aufwertung von Ackerland zu nutzen.

Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen forderte die japanische Regierungim vergangenen Jahr auf, den Grenzwert für Kinder und Frauen im gebärfähigen Alter von 20 mSv/Jahr auf 1 mSv/Jahr - das Niveau vor dem Unfall - zu senken. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass die Entscheidung der Präfektur, öffentliche Beihilfen wie ein kostenloses Wohnungsbauprogramm einzustellen, einen Zwang für die "freiwilligen" Evakuierten darstellt, nach Hause zurückzukehren.

Ein weiteres Programm zur Förderung von Wohnraum durch die lokale Regierung seit dem Auslaufen des vorherigen Programms wird ebenfalls im März 2019 zurückgezogen, so dass keine öffentliche Unterstützung für die "freiwilligen" Evakuierten übrig bleibt. Darüber hinaus kündigte der Gouverneur der Präfektur Fukushima an, dass die Bereitstellung von temporären Wohnungen für die Dörfer Namie, Tomioka, Katsurao und Iitate bis Ende dieses Jahres abgeschlossen sein wird, obwohl einige Teile der Dörfer immer noch als schwer zugängliche Rückkehrzonen ausgewiesen sind.

Nach dem Bericht eines Schilddrüsen-Screening-Programms für Kinder unter 18 Jahren zum Zeitpunkt des Unfalls wurden über 200 Personen mit Schilddrüsenkrebs (166) oder Verdacht auf Schilddrüsenkrebs (40) gefunden. Der Unterausschuss zur Beurteilung der Schilddrüsenuntersuchung veröffentlichte jedoch im vergangenen Jahr, dass es 11 weitere Schilddrüsenkrebsfälle gab, die nicht in der offiziellen Statistik erfasst wurden. Was noch schlimmer ist: die Präfektur Fukushima sagt, dass sie keine Fälle außerhalb des Rahmens der Fukushima Health Management Studie untersuchen wird, obwohl die Selbsthilfegruppen der Bürger feststellten, dass einige Schilddrüsenkrebspatienten ihre Operationen in anderen medizinischen Einrichtungen als dem Fukushima Medical University Hospital durchgeführt haben, dem einzigen Krankenhaus, das die offizielle Untersuchung durchführt. Der Unterausschuss wird den möglichen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Schilddrüsenkrebsfällen und der Atomkatastrophe analysieren, aber es ist unmöglich, eine genaue Analyse zu liefern, ohne die genaue Anzahl der Patienten zu haben. Einige Mitglieder des Unterausschusses schlagen sogar vor, den Umfang der Gesundheitserhebung zu reduzieren; sie argumentieren, dass dies zu "Überdiagnosen" führen könnte, oder dass eine allgemeine Erhebung in Schulen die Menschenrechte verletzt. Dagegen wenden sich andere Mitglieder heftig gegen diese Vorstellung und betonen die Bedeutung einer kontinuierlichen Beobachtung und Frühbehandlung.

Im Januar berichtete die Zeitung Tokyo Shimbun, dass auf einer Sitzung des National Institute of Radiological Sciences im Mai 2011der Fall eines 11-jährigen Mädchens mit einer Schilddrüsenäquivalentdosis von etwa 100 mSv (die Strahlendosis, die lokal von der Schilddrüse aufgenommen wurde) gemeldet worden war. Die japanische Regierung behauptet, dass "es kein Kind gab, dessen Schilddrüsenäquivalentdosis bis zu 100 mSv erreichte". Ein weiteres Beispiel ist eine veröffentlichte wissenschaftliche Arbeit, in der die geschätzte Lebensdosis für die Einwohner von Date City nur ein Drittel der korrekt bewerteten Dosis betrug, was uns umso misstrauischer gegenüber weit verbreiteten Absprachen zur Verschleierung des Zusammenhangs zwischen Gesundheitsschäden und Strahlungsexposition macht.

Trotz dieser harten Realität kämpfen die Bürger*innen und einige Medien weiterhin mutig für eine bessere Gesellschaft. Obwohl Sie weit weg von uns wohnen, sind wir dankbar für Ihre Fürsorge und Unterstützung und werden durch diese ermutigt. Lasst uns für eine Welt ohne Nuklearanlagen eintreten, in der jede und jeder sicher und komfortabel leben kann!@

https://fukushima311voices.com/2019/03/09/to-those-who-are-working-hard-for- renouncing-nuclear-energy- message-from-ruiko-muto

Ruiko Muto                    
ist Vorsitzende der
Beschwerdeführer*innen für
die strafrechtliche Verfolgung
der Atomkatastrophe

 

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