Lucens - Schweiz: 50 Jahre Kernschmelze

"made in Switzerland"

Am 21.01.2019 jährt sich einer der bestverdrängten Atomunfälle der Welt zum fünfzigsten mal.

Wer an schwere Atomunfälle, an Kernschmelzen und an den größten anzunehmenden Unfall (GAU) denkt, der denkt an Fukushima, Tschernobyl und Harrisburg. Aus dem kollektiven Gedächtnis (fast) erfolgreich gelöscht wurde der schwere Atomunfall im Versuchsreaktor Lucens in der Schweiz am 21. Januar 1969. Nichts auf der Homepage der kleinen Gemeinde Lucens (CH) lässt erahnen, daß dieser Ort in der Liste der schweren Unfälle in kerntechnischen Anlage aufgeführt ist.

    Der Traum von unbegrenztem Strom aus Atom und der eigenen Schweizer Atombombe

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs träumten auch in der Schweiz einige Lobbyisten einen doppelten Traum. Den Traum vom "ewigen Strom durch Atom" und von der "eigenen, Schweizer Atombombe". Die Atompolitik der Schweiz war in den ersten Jahrzehnten geprägt vom Kalten Krieg. Die Angst vor einem sowjetischen Atomangriff war der Auslöser des Schweizer Atomwaffen-Programms und begünstigte zudem die massive staatliche Subventionierung der Atomindustrie. Die Forschungen im Bereich der Atomphysik wurden zivil getarnt, verfolgten aber hauptsächlich einen militärischen Zweck.

1946 setzte der Bundesrat die Studienkommission für Atomenergie (SKA) ein, welche den Bau einer Schweizer Atombombe realisieren sollte.. In der kleinen Gemeinde Lucens wurde am 1. April 1962 mit dem Bau eines neuen Reaktortyps begonnen, einer schweizerischen Eigenentwicklung. Das Versuchsatomkraftwerk in Lucens wurde nicht für die Produktion elektrischer Energie gebaut, sondern diente der Entwicklung eines neuen Reaktortyps, der auch für den Bau von Atomwaffen hätte genutzt werden können.

100m weit in den Berg gebaut entstand in einer Felskaverne ein kleiner Natururan-Reaktor, in dem auch atombombenfähiges Plutonium erzeugt werden sollte. Als Containment diente eine ungefähr 60 Zentimeter dicke Wand aus Aluminium, Asphalt und Beton, mit der die Reaktorkaverne ausgekleidet war. Der Bau der unterirdischen Kaverne erwies sich als viel schwieriger als erwartet. Die Inbetriebnahme verzögerte sich wegen technischer Probleme immer wieder. 1963 kam es nach Sprengungen zu Rissbildungen im Fels. In der Folge liefen die Kosten immer mehr aus dem Ruder. 1962 waren 64,5 Millionen Franken veranschlagt, letztlich kostete Lucens bis 1969 112,3 Millionen Franken.

    NOK, BKW und Co. setzen auf US-Atomreaktoren

Anfang 1964 verkündete die NOK (Nordostschweizerischen Kraftwerke AG), dass sie einen amerikanischen Atomreaktor importieren werde. Ihr Ziel war es, ein AKW in Beznau bereits 1969 in Betrieb zu nehmen. Aus diesem Grund wollte sie die Entwicklung eines Schweizer Atomreaktors nicht mehr abwarten. Der Import amerikanischer Reaktoren durch die Elektrizitätsunternehmen war für die Schweizer Reaktorentwicklung ein schwerer Schlag. Im gleichen Jahr folgten die BKW (ehemals Bernische Kraftwerke AG - ein international tätiges Energie- und Infrastrukturunternehmen mit Sitz in Bern) mit der Ankündigung des Baus von Mühleberg, die Elektro-Watt mit Leibstadt und die Motor-Columbus mit Kaiseraugst. Die Hoffnung auf ein lukratives Geschäft durch die Entwicklung eines eigenen Schweizer Atomreaktors und dessen weltweiten Export hatte sich in Luft aufgelöst. Georg Sulzer verkündete schliesslich 1967 ebenfalls den Austritt seiner Firma aus der Schweizer Reaktorentwicklung. Damit war das Ende der Schweizer Reaktorentwicklung eigentlich besiegelt, trotzdem wurde in Lucens weitergebaut. Das Versuchsatomkraftwerk war längst zum nationalen Symbol für den atomaren Traum geworden. Am 10. Mai 1968 wurde der Betrieb des unterirdischen "Kleinst-AKW" aufgenommen.

Nach einer dreimonatigen Betriebsphase wurde der Reaktor Ende Oktober 1968 für Revisionsarbeiten abgestellt. Die Abdichtungen des Kühlgebläses, welches das Kohlendioxid im Primärkreislauf zirkulieren liess, funktionierten nicht zuverlässig. Sperrwasser war in den Primärkreislauf eingedrungen. Trotzdem erteilte der Bund Ende Dezember 1968 die definitive Betriebsbewilligung. Das Wasser verursachte bei den Umhüllungsrohren der Uran-Brennstäbe Korrosion. Bei der erneuten Inbetriebnahme behinderte der Rost den freien Umlauf des Kohlendioxids und damit die Kühlung des Reaktors.

    Eine Explosion führt zur Kernschmelze in Lucens

Am 21. Januar 1969 wurde der Reaktor in Lucens um vier Uhr morgens wieder in Betrieb genommen. Um 17.15 Uhr gingen die Sirenen los, die Betriebsequipe wurde von einer automatischen Schnellabschaltung des Reaktors überrascht. Kurze Zeit später hörten sie im Kontrollraum eine Explosion im Berginnern. Die Katastrophe im AKW Lucens nahm ihren Lauf. Es kam zur Kernschmelze. Im Innern des Reaktors begann der überhitzte Uran-Brennstab Nr. 59 zu schmelzen, dann zu brennen. Der Schmelzvorgang erfasste auch die benachbarten Brennstäbe.

Schliesslich explodierte der Reaktor und das radioaktive Material, rund 1100 Kilogramm schweres Wasser, Uran-Magnesium-Schmelze und radioaktiv kontaminiertes Kühlgas wurden durch die Reaktorkaverne geschleudert. Die 60 Zentimeter dicke Wand aus Aluminium, Asphalt und Beton des Sicherheitsbehälters wurde durch den Druck der Explosion weggesprengt. Durch undichte Stellen in der Kaverne entwichen radioaktive Gase. Der Direktor Jean-Paul Buclin erinnerte sich später: "Die Radioaktivität aus der Reaktorkaverne hat sich unvorhergesehen in anderen Lokalitäten verbreitet, sogar bis in den Kontrollraum.

Dabei entwichen radioaktive Gase u.a. in die Kaverne, die daraufhin so stark verseucht war, daß sie für Jahre zugemauert werden musste. Neben Fukushima, Tschernobyl, Sellafield und Harrisburg war dieser Atomunfall in einem Schweizer AKW einer der großen Atomunfälle in der Geschichte der Atomindustrie. Er führte nur deshalb nicht zu einer großen Katastrophe, weil der Versuchsreaktor sehr klein und in eine Felskaverne eingebaut war. Das radioaktive Potential war noch nicht so groß, weil der kleine Versuchsreaktor bereits kurz nach der Inbetriebnahme und nach wenigen Probeläufen durchbrannte.

    Traum geplatzt

Der Traum vom Schweizer Reaktor war geplatzt. Die Dekontamination der Reaktorkaverne und die Zerlegung des zerstörten Reaktors dauerten über drei Jahre bis im Mai 1973. Der radioaktive Abfall wurde in rund 250 Fässern von je 200 Litern gefüllt. Die unbeschädigten Brennelemente wurden in die Wiederaufbereitungsanlage der Eurochemic im belgischen Mol gebracht. Die hoch radioaktiven 60 Kilogramm Uran des geschmolzenen Brennelements Nr. 59 wurden zerlegt und in sechs Stahlbehälter verpackt und luftdicht eingeschweisst. Die Anlage wurde von 1991 bis 1992 definitiv stillgelegt, die Reaktorkaverne mit Beton gefüllt. Die sechs kontaminierten Stahlbehälter lagerten weiterhin in der Anlage, bis sie schliesslich 2003 ins Zwischenlager (Zwilag) nach Würenlingen gebracht wurden. Mit der Zwischenlagerung der "atomaren Reste des Versuchs" in der grenznahen Würenlinger ZWILAG ist das Kapitel Lucens nun aber keinesfalls endgültig abgeschlossen. Der radioaktive Schrott des durchgebrannten Brennelements wird noch eine Million Jahre weiter strahlen. Ein vergleichbarer Unfall in einem anderen, großen AKW der Schweiz könnte diese auf Dauer unbewohnbar machen.

    Verdrängung

Die Bevölkerung wurde erst einen Tag nach dem Reaktorunfall informiert. Die Verantwortlichen beschrieben den GAU lediglich als «Zwischenfall». Obwohl die Kernschmelze in Lucens 1969 einer der weltweit schwersten Atomunfälle war, warf der "Störfall" damals in der Öffentlichkeit keine grossen Wellen. Die Atomtechnologie wurde damals noch nicht grundsätzlich hinterfragt. Noch immer herrschte der Fortschrittsglaube. Der Widerstand gegen die AKW erwachte erst in den 1970er-Jahren.

Für die Anti-AKW-Bewegung kam der Atomunfall in Lucens um einige Jahre zu früh. Heute ist der Atomunfall von Lucens längst aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Einer der schwersten Atomunfälle weltweit ist damit nahezu in Vergessenheit geraten. Heute wird die Kernschmelze von Lucens auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) auf Stufe 5 (von insgesamt 7 Stufen) eingeordnet und damit als "schwerer Unfall" taxiert, vergleichbar mit dem Reaktorunfall im AKW Three Mile Island in Harrisburg in den USA 1979.

Seit 1969 versucht die Schweizer Atomlobby die Erinnerung an diesen Unfall in der "sicheren und sauberen" Schweiz zu löschen. Der "Zwischenfall" wurde vertuscht und verharmlost. Die enge Verflechtung von Staat, Wissenschaft und Industrie blieb weiter bestehen und wirkt teilweise bis heute nach.

Atomunfälle und Kernschmelzen, das gibt es im Bewusstsein der Menschen auch in Deutschland doch nur im "unsicheren Russland oder im fernen Japan". Die schweren Unfälle in Sellafield, Harrisburg und Lucens wurden und werden auch in Deutschland gerne verdrängt.

    Aus der Katastrophe
    nichts gelernt

Dass aus der beinahe - Katastrophe nichts gelernt wurde, zeigt die Tatsache, dass im schweizerischen Beznau das älteste und eines der gefährlichsten AKW der Welt betrieben wird. Und jedes weitere Land das mit Hilfe der "friedlichen" Nutzung der Atomkraft zu Atomwaffen kommt, ist eine Katastrophe für den Frieden und die Welt.@

Quellen:
www.bund-rvso.de 11.1.19
www.infosperber.ch 8.1.19

 

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