unter Bedingungen der imperialen Lebensweise Emanzipation von Ulrich Brand und Markus Wissen Der Begriff der imperialen Lebensweise will darauf hinweisen, dass die Menschen (vor allem des globalen Nordens) in ihrem Alltag systematisch auf die billige Arbeitskraft und Natur der Welt zurückgreifen, um sich selbst zu reproduzieren. Die imperiale Lebensweise ermöglicht, sich auf eine bestimmte Art und Weise fortzubewegen, zu kommunizieren, zu essen und sich zu kleiden. Sie erhöht - abhängig vom Einkommen, aber auch von öffentlichen und sozialen Infrastrukturen - die Handlungsfähigkeit und -reichweite von Menschen. Die relativ besseren materiellen Lebensbedingungen ermöglichen eine höhere Lebensqualität. Die Reproduktion der imperialen Lebensweise hat zuvorderst mit kapitalistischen Profitinteressen und Akkumulationsimperativen zu tun, mit geopolitischen und ökonomischen Strategien als Teil eines neo-kolonialen Weltsystems. Es sind tief verankerte Macht- und Herrschaftsverhältnisse entlang unterschiedlicher Spaltungslinien, die zur imperialen Lebensweise führen und von dieser reproduziert werden. Die imperiale Lebensweise ist konstitutiv mit ausdifferenzierten Klassen-, Geschlechter- und rassisierten Verhältnissen verbunden. Doch der globale Zugriff auf Arbeitskraft und Natur ist ebenso in die Alltagspraxen der Menschen tief eingelassen, er hat sich zu Routinen verfestigt, wird also meist unbewusst vollzogen. Dabei gibt es natürlich große Unterschiede, die vor allem vom Einkommen abhängen. Aber insgesamt leben die allermeisten Menschen hierzulande auf Kosten anderer Weltregionen in Europa oder im globalen Süden. Wichtig ist dabei: Die imperiale Lebensweise ist auch ein Zwang, denn die Menschen können in der Regel nicht frei entscheiden, unter welchen Bedingungen sie leben. Individuelle und gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln, ist deshalb nicht einfach.
Die globale soziale Frage stellt sich in den letzten Jahren verstärkt. Zum einen haben sich - nicht zuletzt als Folge der imperialen Lebensweise des globalen Nordens - für viele Menschen die Lebensverhältnisse in anderen Weltregionen deutlich verschlechtert. Bisweilen sind sie so untragbar geworden, dass sich die Betroffenen - oft unter größten Risiken - aufmachen, um unter den sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen zu leben, wie sie die imperiale Lebensweise den Menschen im globalen Norden gewährt. Zum anderen tritt die Widersprüchlichkeit der imperialen Lebensweise in der Ausbreitung ressourcen- und emissionsintensiver Produktions- und Konsummuster in den aufstrebenden Ländern des globalen Südens zutage. Denn damit vergrößert sich der Bedarf an Rohstoffen, an (landwirtschaftlichen) Flächen, an Schadstoffsenken und an Arbeitskräften, die die Rohstoffe extrahieren und billige Lebensmittel produzieren. Die imperiale Lebensweise beruht auf Exklusivität, also darauf, dass nicht alle an ihr teilhaben. Gleichzeitig entfaltet sie eine starke Anziehungskraft auf all jene, denen die Teilhabe an ihr bislang verwehrt war beziehungsweise die vor allem ihre Kosten zu tragen hatten. Indem sie sich aber verallgemeinert, geht sie ihrer eigenen Existenzgrundlage verlustig: Das Außen, auf das sie aufgrund ihrer überproportionalen Inanspruchnahme von Natur und Arbeitskraft angewiesen ist, schrumpft im selben Maße, wie Teile des globalen Südens sich die imperiale Lebensweise zu eigen machen und dadurch nicht nur als Außen des globalen Nordens wegfallen, sondern selbst von einem Außen abhängig werden, auf das sie ihre Kosten verlagern können. In der Konsequenz verschärfen sich öko-imperiale Spannungen innerhalb des globalen Nordens ebenso wie zwischen diesem und dem globalen Süden.
Aus emanzipatorischer Perspektive liegt die Krux darin, dass für die mitunter durch erbitterte Kämpfe erreichte Verbesserung der Lebensverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten in den Metropolen unter Bedingungen von Kapitalismus und Imperialismus stattfindet. Klassenpolitik von unten oder "neue Klassenpolitik" in einem Land wie Deutschland oder in Europa, welche ökologische, feministische, anti-rassistische und andere Fragen aufnimmt, steht deshalb zunächst einmal in einem Spannungsverhältnis zur imperialen Lebensweise, die immer auch eine Produktionsweise ist. Klassenpolitisch bedeutsam ist aus unserer Sicht, dass der in die kapitalistische Gesellschaft eingelassene Zwang zur imperialen Lebensweise nicht notwendigerweise als solcher empfunden wird. Wie gesagt, er geht durchaus einher etwa mit Arbeitserleichterungen, mehr Komfort und einer größeren Mobilität. Vor allem die sich mit dem fordistischen Klassenkompromiss durchsetzende erdölbasierte Konsumnorm verhalf den Lohnabhängigen zu einem bis dahin unbekannten Lebensstandard. Große Teile der Arbeiterklasse des globalen Nordens profitierten davon, und zwar zu Lasten der Natur und der Lohnabhängigen im globalen Süden - sowie basierend auf schlecht entlohnter migrantischer Arbeit und der unentgeltlichen Aneignung der von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit im globalen Norden selbst. Die Wohlstandszuwächse, die der Fordismus den Lohnabhängigen bescherte, hoben den Klassengegensatz natürlich nicht auf. Vielmehr wurden die nivellierenden Tendenzen der fordistischen Entwicklungsweise von einer Kontinuität gesellschaftlicher Hierarchien überlagert. Am Tatbestand der Ausbeutung der Lohnabhängigen im globalen Norden ändern Nivellierungstendenzen nichts Grundlegendes. Die gesellschaftliche Hierarchisierung stachelte etwa den Konsum zu symbolischen Zwecken an. Hierarchisierung geht Hand in Hand mit Statuskonsum: Die Reichen vergewissern sich ihrer sozialen Stellung, indem sie die jeweils neueste Version eines Luxusguts zur Schau tragen. Damit konkurrieren sie untereinander und setzen gleichzeitig die Standards, denen die weniger Begüterten nacheifern. Der materielle Gebrauchswert der Ware spielt dabei eine ihrem symbolischen Wert untergeordnete Rolle. Seit der Krise des Fordismus in den 1970er Jahren - und beschleunigt durch die Krise und die Krisenpolitiken nach 2008 - ist die gesellschaftliche Entwicklung im globalen Norden durch eine (wieder) zunehmende gesellschaftliche Hierarchisierung geprägt, die die Segnungen der imperialen Lebensweise für eine größer werdende Zahl von Menschen in weite Ferne rücken lässt. Branchenübergreifend haben sich die Arbeitsbedingungen in jüngerer Zeit verschlechtert. Dazu kommen die Verschärfung der ökologischen Krise und die Zunahme von geopolitischen Spannungen, die auch in der gesellschaftlichen Mitte die diffuse Ahnung nähren, dass die lange Zeit vorherrschende ungleiche Verteilung von Kosten und Nutzen der imperialen Lebensweise nicht von Dauer sein könnte. Allem Anschein nach erodieren also die sozial-ökologischen Voraussetzungen der klassenübergreifenden Wohlstandszuwächse und der Bearbeitung des Klassengegensatzes im globalen Norden, und zwar umso mehr, je stärker andere (etwa die Schwellenländer) auch von diesen Voraussetzungen abhängig werden und je aggressiver die Eliten des globalen Nordens - mit starker Zustimmung nicht unerheblicher Teile der Bevölkerung - die Exklusivität der imperialen Lebensweise zu verteidigen versuchen. Die alltägliche, habitualisierte, ganz praktisch und meist unbewusst vollzogene Produktions- und Lebensweise führt nicht nur zu ökologischer Zerstörung und Ausbeutung im globalen Süden. Sie verschärft - gerade wegen ihrer globalen Attraktivität und Verallgemeinerung - auch die sozial-ökologischen Widersprüche im globalen Norden selbst. Das ist eine zentrale Herausforderung für aktuelle emanzipatorische Politik und das ist das falsche Versprechen von Rechtsaußen: Die diffuse Ahnung von der Unhaltbarkeit dieser Lebensweise wird umgearbeitet in ein Versprechen, dass es mit Hilfe von Abschottung, aggressiv-nationalistischer Wirtschaftspolitik und Neo-Kolonialismus doch so weitergehen könne wie bisher.
Aus unserer wissenschaftlichen wie politischen Strategie, die internationalen Voraussetzungen und negativen Konsequenzen der imperialen Lebensweise und die dieser zugrundeliegenden Mechanismen sichtbar zu machen und damit die Bedingungen eines zu schaffenden Modells für Wohlstand und Lebensqualität für alle zu formulieren, ergibt sich: Eine linke Perspektive und damit eine neue Klassenpolitik muss internationalistisch sein. Sie kann sich also nicht auf das Zusammendenken verschiedener Herrschaftsverhältnisse innerhalb eines Landes beschränken, sondern muss auch räumlich über die nationalstaatliche Ebene hinausgehen. Das ist bereits in Europa deutlich, wenn die Institutionen, Kräfteverhältnisse und Politiken in der EU systematisch das bundesdeutsche Exportmodell favorisieren und Alternativen blockieren. Damit bleibt es nicht bei der notwendigen Bekundung und Praxis internationaler Solidarität, insbesondere über das Sichtbarmachen und die Unterstützung von Arbeitskämpfen in Ländern des globalen Südens, die in vielen Fällen für Auseinandersetzungen hierzulande motivierend sind. Vielmehr geht es vor allem darum, den Umbau der Produktions- und Lebensweise in einem Land wie Deutschland konsequent international und internationalistisch zu denken. Dies impliziert eine völlige Restrukturierung von Weltmarkt, internationaler Arbeitsteilung und den entsprechenden Regeln und Kräfteverhältnissen. Doch anzufangen wäre "zu Hause", nämlich in Deutschland und in der EU. Politiken einer solidarischen Produktions- und Lebensweise müssten die sozialen und ökologischen Implikationen hierzulande und international berücksichtigen. Sie würden in den Blick nehmen, dass das exportgetriebene Wachstumsmodell vordergründig materiellen Wohlstand für relevante Teile der Bevölkerung schafft, aber um den Preis eines absurden Reichtums der Eliten, der Akzeptanz bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse, der Abhängigkeit von Wohl und Wehe von Investitionsentscheidungen und des kapitalistischen Weltmarkts und eben auch vieler sozialer Ausschlüsse und ökologischer Zerstörungen. Der Begriff der imperialen Lebensweise weist vor dem Hintergrund sich zuspitzender globaler sozialer Fragen und einer Repolitisierung der Klassenfrage in den materiell wohlhabenden Gesellschaften auf das Dilemma hin, dass viele Lohnabhängige im globalen Norden materiell im Zuge emanzipatorischer sozial-ökologischer Politik durchaus etwas zu verlieren haben, aber im Umbau der Produktions- und Lebensweise hin zu einer solidarischen eben auch einiges zu gewinnen: mittelfristig bessere und stabilere Lebensbedingungen und Selbstbestimmung und ein erfülltes Leben statt Fixierung auf Disziplin, Erwerbsarbeit und Konsumismus.@ in: Prager Frühling, März 2018 | ||
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