Mit Sicherheit in den Abgrund: Die Instrumentalisierung der wachsenden Verunsicherung Politik der Angst von Thomas Gebauer Kaum eine Frage bewegt heute die Öffentlichkeit mehr als die Frage der Sicherheit. Schon jetzt sind die Folgen unübersehbar: Plätze, Straßen, ja ganze Städte überwacht von VideoKameras, private Sicherheitsdienste im Nahverkehr, Betonklötze vor Fußgängerzonen, die erkennungsdienstliche Behandlung beim Grenzübertritt, automatische Gesichtserkennung auf Bahnhöfen, die Massenausspähung durch Geheimdienste, die längst in jedem Menschen ein potentielles Sicherheitsrisiko sehen. Auch bei den Ausgespähten wächst das Bedürfnis nach Sicherheit. Begüterte ziehen in bewachte Wohnviertel und fahren Autos, die an Panzerspähwagen erinnern. Jugendliche, so besagen es aktuelle Umfragen, sorgen sich inzwischen mehr um die innere Sicherheit als um ihre Ausbildung. Überall Expertenforen, die sich mit Fragen der "IT Sicherheit", "Urbane Sicherheit", "Flughafensicherheit" oder "Krisenkommunikation" auseinandersetzen. Es stimmt: Die Welt ist zu einem höchst unsicheren Ort geworden. Dabei ist es gerade die Engführung aller Probleme auf die Frage der Sicherheit, die verhindert, dass die Ursachen der Verunsicherung von Menschen angegangen werden können: der beängstigende Klimawandel, der auch hierzulande nicht mehr zu leugnen ist; die rasant voranschreitende Digitalisierung der Lebenswelten, die den Menschen kaum noch nützt, sie aber zunehmend nutzlos macht; der Sozialabbau, der zu immer offensichtlicher werdenden gesellschaftlicher Auflösungserscheinungen führt. Angesichts solcher Verunsicherungen kann ein wachsendes Bedürfnis nach Sicherheit nicht verwundern. Die Garantie körperlicher Unversehrtheit, die Rechtssicherheit, der Zugang zu sozialer Sicherung verweisen auf fundamentale Menschenrechte, deren Realisierung und Sicherstellung wichtige gesellschaftliche Aufgaben sind. Nicht das Bedürfnis nach Sicherheit ist das Problem, sondern die Art, wie es gesellschaftlich geformt und heute für den Erhalt bestehender Machtverhältnisse instrumentalisiert wird. Zu fragen ist beispielsweise, warum die Angst, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden, zunimmt, obwohl die Polizeistatistiken dazu keinen Anlass geben? Woher rührt der eigentümliche Widerspruch zwischen "gefühlter" und realer Kriminalität, dem mit rationalen Argumenten so wenig beizukommen ist? Woher der weit verbreitete Eindruck, dass sich heute in Westeuropa Terroranschläge häufen, obwohl die reale Bedrohungslage in den 1970er- und 1980er-Jahren sehr viel höher war? Warum die Furcht vor Flüchtlingen, die heute angeblich in Horden über Europa herfallen würden, obwohl deren Zahl abnimmt und ohnehin nur der kleinste Teil der weltweit zur Flucht Gezwungenen den Weg nach Europa nimmt? Solche Wahrnehmungsverzerrungen sind nicht alleine menschlicher Irrationalität geschuldet. Sie sind politisch gemacht und sagen viel aus über den Zeitgeist und die Mechanismen der Macht. Es ist auch das ständige Evozieren von Bedrohungsgefühlen in Medien und Politik, das verunsichert. Und aus Ängsten lässt sich auch gut Kapital schlagen. Ängste beflügeln nicht nur die Geschäfte der heute mit zweistelligen Zuwachsraten boomenden Sicherheitsindustrie, sondern nützen auch im Kampf um Wählerstimmen. Wer Bedrohungsszenarien auszumalen weiß und sich darin als zupackender Retter zu inszenieren versteht, punktet bei denen, die Unsicherheit empfinden. Und Sündenböcke, die für alle Probleme der Welt verantwortlich sein sollen, sind schnell präsentiert: die Fremden, die Flüchtlinge, die Obdachlosen und Sozialhilfeempfänger. Mit dem Tritt nach unten lässt sich die am eigenen Leibe erfahrene Verunsicherung in Stärke verwandeln. Und so lassen sich auch alte Hierarchien, die mit der Globalisierung der Verhältnisse ins Wanken geraten sind, wiederherstellen. Rassistische Einstellungen helfen bei Umwandlung von Angst in Hass. Für das so entstehende Ressentiment bleibt es unerheblich, dass Länder wie Deutschland auf Zuwanderung angewiesen sind und mit Blick auf die öffentlichen Haushalte nicht die wirtschaftlich Schwachen, sondern die Besserverdienenden das Problem sind: auf jeden Euro Sozialmissbrauch kommen 1.400 Euro an Steuerhinterziehung. Beschämend ist, wie abgewirtschaftete Politikerinnen und Politiker, die auf keine der drängenden Fragen der Zeit noch eine Antwort wissen, solche Ressentiments bedienen. Für ein sprichwörtliches Linsengericht verraten sie die Grundfeste menschlichen Zusammenlebens. Um ihre Macht zu sichern, werden Mitgefühl und Hilfsbereitschaft geopfert. Aus Schutzbedürftigen werden Asyltouristen, aus Nothelfern Kriminelle, aus empörten Bürgerinnen und Bürgern Aufständische gegen die bestehende Ordnung. Immer ist es der Verweis auf die bedrohte Sicherheitslage, mit dem sich sogar noch der Rechtsbruch legitimieren lässt. Auf Dauer aber wird der Verlust an Menschlichkeit und Recht sehr viel schrecklichere Folge haben, als heute der Verzicht auf ein paar Privilegien. Statt über Möglichkeiten eines globalen Ausgleichs nachzudenken, dominiert heute eine Politik der Abschottung und Grenzziehung. Die Fratze der Unmenschlichkeit zeigt sich nicht nur im Ruf des Pöbels, die Flüchtlinge doch einfach absaufen zu lassen; sie zeigt sich auch in einer Politik, die Flüchtlingsunterkünfte zu verantworten hat, die, so der Papst, an Konzentrationslager erinnern. Die Verrohung der Sitten, die Aufkündigung des Respekts gegenüber den Anderen, die Gewöhnung daran, dass die Würde der Menschen offenbar doch angetastet werden kann - all das sichert nicht das friedliche Zusammenleben von Menschen, sondern nur das bestehende Unrecht. Übrig bleibt jener archaische Kampf aller gegen alle, in dem schon immer nur die Stärkeren gewinnen konnten. Und so wirken die Mauern, die nach außen gezogen werden, auch nach innen. Sie sind es, die die Panik aufkommen lassen. Die vermeintliche Sicherheit führt geradewegs in den Abgrund. Der Traum absoluter Sicherheit, so der in Südafrika lebende Philosoph Achille Mbembe, meint nicht nur Überwachung, sondern auch Säuberung. "Counterinsurgency is coming home", sagt der New Yorker Politikprofessor Bernard Harcourt, der die Entwicklungen in den USA seit dem Angriff auf das World Trade Center beobachtet hat, über die Ausbreitung der Prinzipien der Aufstandsbekämpfung nun auch im Inneren. Immer deutlicher werde heute, so Harcourt, dass es längst nicht mehr nur um einen vorübergehenden Ausnahmezustand geht, sondern die US-Regierung begonnen hat, die eigene Bevölkerung als dauerhaften inneren Feind zu betrachten. Die sicherheitspolitischen Strategien, denen sich die amerikanische Öffentlichkeit heute ausgesetzt sieht, seien die, die früher in anti-kolonialen Kämpfen gegen Aufständische eingesetzt wurden. Zu den immer deutlicher zutage tretenden Instrumenten zählen eine "hypermilitarisierte Polizei" (inzwischen ausgestattet mit Kampfdrohnen), die Massenüberwachung und Eliminierung von vermeintlichen Gegnern und psychologische Techniken, zu denen die Erzeugung irrationaler Ängste (derzeit vor Muslimen) und immer häufiger auch die Gleichsetzung von Protest mit Terrorismus. Harcourt, dessen Buch im kommenden Frühjahr auf Deutsch erscheinen wird, schildert eine beängstigende Welt, die so gar nicht in das romantische Bild passen will, das viele mit dem Begriff Heimat verbinden. Die "Heimat", die uns der herrschende Sicherheitsdiskus verspricht, ist ein wenig anheimelnder Ort. Es ist ein Ort, an dem die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit verloren gegangen ist. Es war der Philosoph Jürgen Habermas, der kürzlich einen prononcierten Einspruch gegen den Weg in den Abgrund formuliert hat. Anlässlich der Verleihung des deutsch-französischen Medienpreises Anfang Juli in Paris geißelte er nicht eine fehlende Sicherheitsarchitektur, sondern die dramatisch zunehmende soziale Ungleichheit. Dass Europa heute bedroht sei, liege vor allem daran, dass die politische Linke und in erster Linie die sozialdemokratischen Parteien Europas ihre Wähler "normativ unterfordern". Wer Mehrheiten gewinnen wolle, müsse seine Ideen auch um den Preis der Polarisierung verteidigen. Andernfalls drohe den Ländern Europas ein Rückfall in die "vergiftete Mentalität ihrer Zeit als Kolonialmächte".@ in: medico am 4. September 2018 | ||
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