Hohe Krebsraten bei Nato-Schießplatz auf Sardinien Das "Quirra - Syndrom": von aaaRed Mit 12.000 Hektar Boden und einem großen maritimen Manövergebiet, das sich weit in internationale Gewässer erstreckt, ist der "Salto di Quirra" im Südosten Sardiniens der größte Schieß- und Übungsplatz der NATO in Europa. Seit Anfang des Jahres 2011 ermittelt die Staatsanwaltschaft von Lanusei, der nächsten größeren Stadt, gegen die Betreiber des Schießplatzes wegen des Verdachts auf Umweltverseuchung und vielfacher fahrlässiger Tötung. Trotz der Bezeichnung als Truppenübungsplatz dient das Gelände in der Hauptsache zur Erprobung von Waffenmaterial. Die italienische Armee testet in Salto di Quirra in Zusammenarbeit mit Waffenherstellern Artilleriegranaten, Drohnen und lasergesteuerte Bomben, Raketen, die Asbest und weißen Phosphor freisetzen, sowie Uranmunition (mit abgereichertem Uran). In Salto di Quirra werden Tonnen alter Waffen und Munition mittels Sprengung und Vergraben entsorgt. Außerdem werden Luft- und Seeattacken auf die Küste simuliert und die Wirkung von Explosionen auf Panzerungen und Pipelines getestet. Anfang der 1980er Jahre nutzte auch die deutsche Bundeswehr das Gelände mit dem Flugabwehrpanzer "Gepard" für Übungen mit scharfem Schuss. Und auch heute nutzt die Bundeswehr noch sporadisch den Platz für Übungen für Auslandseinsätze. In Quirra testet das italienische Militär zusammen mit Rüstungsfirmen aus anderen NATO-Ländern. Wer die nötigen Mittel aufbringt, darf hier alle möglichen Waffenversuche machen. 50.000 Euro pro Stunde sollen die Firmen an das italienische Verteidigungsministerium zahlen.
Seit Anfang des Jahres 2011 ermittelt die Staatsanwaltschaft von Lanusei, der nächsten größeren Stadt, gegen die Betreiber des Schießplatzes wegen des Verdachts auf Umweltverseuchung und vielfacher fahrlässiger Tötung. Unter Verdacht stand auch die deutsche Rüstungsfirma MBB und die Luftwaffe der Bundeswehr wegen der DU-Munition aus abgereichertem Uran (depleted uranium), die panzerbrechende Eigenschaften hat. Ermittelt wird zudem gegen Mitarbeiter des Prüfungsunternehmens Société Générale de Surveillance. Ihnen wird vorgeworfen, dem Schießplatz wider besseres Wissen eine hohe Umweltverträglichkeit bescheinigt zu haben. Die Staatsanwaltschaft vermutet, daß das gesamte Sperrgebiet und die Äcker rund um das Militärgelände bei Waffentests mit umweltschädlichen und krebserregenden Substanzen verseucht worden sind, unter anderem mit Uranmunition aus abgereichertem Uran (depleted uranium). Das berichtete die Autorin Aureliana Sorrento eines Features, das am 19. August 2011 vom Deutschlandfunk gesendet wurde. Der Staatsanwalt von Lanusei, Domenico Fiordalisi, hat demnach im Mai 2011 das militärische Sperrgebiet, auf dem bis dahin Viehzucht erlaubt war, als Beweismittel beschlagnahmt und gesperrt. Zwar dürfen die Militärs die Region bis auf weiteres als militärisches Übungsgebiet nutzen, den Hirten aber ist die Nutzung des Geländes untersagt. Zwar behaupten die italienischen Streitkräfte, Uranmunition weder besessen noch getestet zu haben. Der Schießplatz von Quirra wird jedoch von der italienischen Luftwaffe regelmäßig vermietet, um neuartige Waffen, Motoren oder Raketen zu testen: an NATO-Partner, an die russische und andere Armeen und an Waffenproduzenten, die ihre neuen Entwicklungen erproben wollen. Zum Gelände gehört der Berg Cardiga. Raketen mit größerer Reichweite werden von dort aus abgeschossen, überfliegen die Dörfer Quirra, Escalaplano und Villaputzu und treffen dann auf die Insel von Quirra. Dem sardischen Bürgerkomitee"Gettiamo le basi" und der Nationalen Vereinigung zur Unterstützung der Opfer des Militärdienstes sind der Sendung zufolge bisher 27 Soldaten bekannt, die auf dem Schießplatz von Salto di Quirra ausgebildet wurden und an Krebs oder Leukämie erkrankten. Geschätzt wird eine dreifach so hohe Zahl. Auch auf den anderen militärischen Übungsplätzen Sardiniens seien beunruhigend viele Soldaten erkrankt, heißt es. Es gibt auf Sardinien drei Schießplätze: Salto di Quirra, Capo Teulada und Capo Frasca. Sie sind in den 1950er Jahren als moderne Schießplätze entstanden. Die ersten verdächtigen Fälle von an Blutkrebs erkrankten Soldaten wurden zunächst nicht in Quirra, sondern auf dem Schießplatz von Capo Teulada gemeldet. Der Verdacht, daß auf den Übungs- und Schießplätzen Sardiniens Waffen mit abgereichertem Uran benutzt wurden, kam 1999 auf. Damals verlangte eine Mutter öffentlich Rechenschaft über den Tod ihres Sohnes, der im Bosnien-Krieg gedient hatte und daraufhin an Leukämie gestorben war. Sie wies auf die Nutzung von Uranmunition als vermutliche Todesursache hin. Sogleich meldete sich eine andere Mutter, deren Sohn auf dem sardischen Schießplatz von Capo Teulada den Wehrdienst geleistet hatte und an derselben Krankheit gestorben war. Daß man im Kosovo Uranmunition verwendet hatte, war bekannt. Deshalb war es nur folgerichtig anzunehmen, daß man auch in Bosnien Uranwaffen eingesetzt hatte. Dann aber mußte man sie auch bei Übungen auf den sardischen Schießplätzen ausprobiert haben. In Europa sind der Schießplatz von Capo Teulada und der Schießplatz von Quirra für solche Tests am besten geeignet. 2001 hatte die Nato einräumen müssen, im Kosovo und in Bosnien uranhaltige Geschosse als panzerbrechende Munition eingesetzt zu haben, bestritt aber, daß von abgereichertem Uran eine Gefährdung für Mensch und Umwelt ausgehe. In allen Ländern, die an Jugoslawien-Einsätzen teilgenommen hatten, wurden aber immer mehr Fälle von Kriegsheimkehrern bekannt, die an Blutkrebs erkrankt waren. Das Wort "Balkan-Syndrom" ging durch die europäischen Medien. In Italien zählte man 2001 achtzehn an Krebs erkrankte Balkan-Veteranen. Mit den Jahren habe sich die Zahl vervielfacht, wird der Präsident der "Nationalen Vereinigung zur Unterstützung der Militärdienstopfer" zitiert: 2007 gab es in Italien bereits 2.536 verdächtige Fälle. So viele werden zumindest in einem Bericht des militärischen Gesundheitsdienstes erwähnt. Bereits 1993 hielt das Pentagon dem Deutschlandfunk zufolge die in Somalia kämpfenden US Truppen dazu an,in der Nähe explodierter Uranmunition besondere Schutzmaßnahmen zu beachten. Davon zeugt ein Schreiben vom 14. Oktober 1993 mit dem Betreff "Medical managementof unusual depleted uranium exposures", das an die nach Afrika abkommandierten Einheiten geschickt worden war. Als "unusual exposures" wurden dabei alle Situationen definiert, die zur Einatmung oder Aufnahme von Uranstaub führen könnten. In solchen Fällen sollten sofort medizinische Untersuchungen vorgenommen werden. Die USA, Frankreich und Großbritannien besitzen erklärtermaßen Uranmunition und die NATO setzt sie bei "Friedensmissionen" immer wieder ein. Eine UN-Konvention, die Uranwaffen verböte, gibt es nicht. Das Quirra-Syndrom In den Jahren nach 1980 kamen in den Dörfern rund um den Schießplatz von Quirra zudem auffällig viele behinderte Kinder auf die Welt und auch die Zahl mißgebildeter Lämmer war alarmierend hoch: Von 26 Babys, die zwischen 1985 bis 1987 geboren wurden, wies die Hälfte Mißbildungen auf. In Villaputzu wurde Ende der 1990er Jahre Alarm geschlagen, als bekannt wurde, daß überdurchschnittlich viele Bewohner des Ortes an Krebs erkrankt waren. Ein Allgemeinmediziner stellte fest, daß von seinen Patienten in Villaputzu nur einer an einem Tumor des hämolymphatischen Systems erkrankt war, bei seinen Patienten aus Quirra waren es dagegen acht. Dabei ist Quirra eine Siedlung von Villaputzu, in der offiziell 150 Menschen, in Wahrheit höchstens 100 wohnen, während Villaputzu 5.000 Einwohner zählt. Engagierte Lokaljournalisten, die über die örtlichen Krankheitsfälle und das Balkan- Syndrom recherchierten,brachten das Ausmaß der Gefährdung ans Licht. In Analogie zum "Balkan-Syndrom" prägte die sardische Bevölkerung den Ausdruck "Quirra- Syndrom". 2002 sah sich dann das italienische Verteidigungsministerium genötigt, eine Untersuchung des Geländes zu veranlassen und stellte dafür zweieinhalb Millionen Euro bereit. Der Untersuchungsauftrag ging an den Schweizer Warenprüfdienst Société Générale de Surveillance, an dem FIAT beteiligt ist. FIAT gehört zu den Unternehmen, die den Übungsplatz von Salto di Quirra regelmäßig als Testgelände für neue Waffen nutzen. Das offizielle Untersuchungsergebnis lautete: Der Schießplatz von Quirra sei so sauber, wie er sauberer nicht sein könne. Quirra ist eigentlich ein unberührtes Paradies, die nächste Fabrik ist siebzig Kilometer entfernt und die Menschen leben von Viehzucht und Landwirtschaft. Auf Druck einer Kommission aus Bürgermeistern und Bürgerkomitees wurde auch eine tierärztliche Untersuchung in die Wege geleitet. Das Dossier der Tierärzte hat dann dokumentiert, was alle schon immer wußten: Daß fünfundsechzig Prozent der Hirten von Quirra an irgendeiner Form von Krebs erkrankt sind. Das sind dieselben Hirten, in deren Herden Tiere mit Mißbildungen geboren wurden. Diese hohe Krebsrate stellten die Tierärzte bei den Hirten fest, die in einem Umkreis von 2,7 Kilometern vom Schießplatz entfernt wohnen. Bei denen, die jenseits dieser Grenze leben, sinkt die Krebsrate auf dreißig Prozent. Dieses Untersuchungsergebnis wurde vom Verteidigungsministerium geheimgehalten, es taucht in keinem offiziellen Dokument auf. Es gelangte jedoch auf die Schreibtische zweier Journalisten, die es am 4. Januar 2011 veröffentlichten, woraufhin die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen über den Schießplatz von Salto di Quirra einleitete. Die Verdachtsmomente haben sich bestätigt. Die Kontamination des Gebietes ist außerordentlich hoch. Große Mengen von vergrabenem Müll enthalten Kadmium, Blei, Antimon und Napalm. An mehreren Stränden und im Wasser sind hohe Bleigehalte zu vermerken. Thorium, ein hoch radioaktives und stark kanzerogenes Element, das in militärischen Zieleinrichtungssystemen verwendet wird, wurde in Milch, Honig und anderen Lebensmitteln gefunden. Die Knochen der gestorbenen Hirten wurden auf abgereichertes Uran und Thorium hin untersucht. Abgereichertes Uran wurde nicht gefunden, erhöhte Thorium-Werte allerdings schon. Der Thoriumgehalt auf dem Sperrgebiet ist dort erhöht, wo zwischen 1986 und 2000 mehr als 1000 MILAN-Raketen zum Einsatz gekommen waren. Es soll unter anderem gegen Mitarbeiter des Prüfungsunternehmens Société Générale de Surveillance ermittelt werden, denen vorgeworfen wird, wider besseres Wissen dem Übungsplatz eine hohe Umweltverträglichkeit bescheinigt zu haben. Widerstand Die Menschen in der Umgebung des Sperrgebiets protestieren seit Jahren immer wieder gegen die militärischen Übungen und Tests, bisher aber ohne nenneswerte Resultate. Es ist mit Quirra noch lange nicht zu Ende. Das Gelände wurde zwar für Menschen und Tiere gesperrt und soll saniert werden. Es wird aber weiter geschossen, wenn auch jene Waffenarten nicht mehr zum Einsatz kommen sollen, deren Rückstände für die Erkrankungen und Todesfälle verantwortlich sind. @
Quellen: |
||
anti-atom-aktuell.de |