zur Dissertation von Leny Patinaux

Sicherheits-Nachweis: wissenschaftlich unmöglich

Marcos Buser und Walter Wildi

". . . der unmögliche wissenschaftliche Nachweis der Sicherheit" Dies ist der Untertitel eines Artikels in der französischen Tageszeitung Le Monde vom 7. Februar 2018. Der vollständige Titel lautet: "Centre d‘enfouissement de Bure : l‘impossible preuve scientifique de la sûreté". Dabei geht es um eine Dissertation, die am 17. Dezember 2017 an der "Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales" verteidigt wurde.

    Die Zeitung Le Monde führt die Geschichte wie folgt ein:
    "Es ist ein peinliches Dokument für die Förderer des Industriezentrums für geologische Lagerung (Cigeo), das darauf abzielt, in einer Tonformation in der Nähe des Dorfes Bure in der Region Meuse den gefährlichsten französischen Atommüll zu begraben. Es beschreibt, wie die Nationale Agentur für die Entsorgung radioaktiver Abfälle (Andra), die die Sicherheit dieser Anlage für die Dauer von hunderttausenden von Jahren nicht offiziell beweisen kann, ihre Anstrengungen darauf konzentriert, die Atomaufsichtsbehörden von der Machbarkeit einer solchen Lagerung zu überzeugen. Dabei nimmt sie in Kauf, einige ihrer Ergebnisse in einer voreingenommenen oder unvollständigen Weise zu präsentieren. Über diese öffentliche Institution (die Andra) hinaus, die unter der Aufsicht der für Energie, Forschung und Umwelt zuständigen Ministerien steht, wird auch die Aufsicht über die nukleare Sicherheit in Frankreich in Frage gestellt."

Die Dissertation unter dem Titel "Enfouir des déchets nucléaires dans un monde conflictuel, une histoire de la démonstration de sûreté de projets de stockage géologique, en France" wurde durch Leni Patinaux verfasst, von einem Wissenschaftshistoriker, der von 2012 bis 2015 bei der nationalen Entsorgerorganisation Andra arbeitete und von dieser für die Forschungsarbeit auch salariert wurde.

In seiner Arbeit schreibt der Autor, Andra hätte ab den 2000-er Jahren begriffen, dass es beim heutigen Stand der Wissenschaften unmöglich ist, die Sicherheit der Abfalllagerung für eine Zeit von hunderttausenden von Jahren zu beweisen. Es gehe daher (der Andra) seither nicht darum, die Sicherheit der Lagerung zu beweisen, sondern vielmehr darum, die für die Evaluation des Projektes "Cigeo"[1] verantwortliche Kommissison, das Institut de radioprotection et de sûreté nucléaire (IRSN) und die Atomaufsicht Autorité de sûreté nucléaire (ASN) von der Richtigkeit des Projektes zu überzeugen. Dies könne allerdings nicht über einen mathematisch fundierten Beweis geschehen, sondern durch eine Argumentationskette; allenfalls soll ein Szenario konstruiert beziehungsweise eine Geschichte erzählt werden.

Der Autor nahm etwa an Sitzungen eines Projektteams teil, bei denen diese Geschichte auf die Bedürfnisse der Andra zugeschnitten wurde. Dabei sei es namentlich darum gegangen, gewisse Unsicherheiten besser zu erklären und zu relativieren, und ihnen das richtige Gewicht zu geben, um Mehrdeutigkeiten zu vermeiden. Die Projektverantwortlichen erwogen die Möglichkeit einer öffentlichen Kontroverse, mit einem potenziell "verheerenden Effekt".

    Skandal oder banal?

In diesem Beitrag möchten wir auf den ersten wichtigen Punkt aus dieser Dissertation eingehen: Andra erachtet es als unmöglich, die Sicherheit ihres geologischen Tiefenlagers in Bure wissenschaftlich sauber nachzuweisen.

Ist diese Erkenntnis der Andra eine Überraschung? Oder ein weiterer Skandal in der schon sehr belasteten Geschichte der sogenannt "friedlichen Nutzung" der Kernenergie? Aber auch: Wie kam Andra dazu, einen Wissenschaftler dafür zu bezahlen, die Philosophie und Strategie des Unternehmens zu erforschen?

Aus der Sicht der uns seit Jahrzehnten bekannten Fakten betrachtet stellen wir fest: Das Resultat der Dissertation ist bedauerlich oder selbst erschreckend, aber an sich "banal", also keine Überraschung, denn eine im philosophischen (beziehungsweise "epistemologischen") Sinne "sichere" Entsorgung der radioaktiven Abfälle durch geologische Tiefenlagerung (und erst recht ihre überwachte Lagerung an der Erdoberfläche) während einer Dauer von tausenden, beziehungsweise hunderttausenden von Jahren gibt es nicht! Es gibt einzig eine - aus heutiger Sicht und unter Berücksichtigung des heutigen Standes der Wissenschaften - "möglichst sichere" Entsorgung, beziehungsweise Lagerung der radioaktiven Abfälle.

Beschränken wir uns auf zwei Argumente, um diese Feststellung zu untermauern:

    Geologische Stabilität
    eines Tiefenlagers:

Ein Hauptargument für die Langzeitlagerung der radioaktiven Abfälle im geologischen Untergrund liegt in der langen Zeit, während welcher das Gestein am Lagerstandort stabil war und beispielsweise eine sehr geringe Wasserdurchlässigkeit aufwies. Diese Feststellung ist richtig. Nur: Eine Gesteinsformation wird durch den Bau und Betrieb eines Tiefenlagers gestört; ihre geomechanischen und vor allem hydrogeologischen Eigenschaften werden verändert. Nur wissen wir nicht, wie sich diese Veränderung langfristig, das heißt über Jahrhunderte bis Jahrtausende, auswirken wird. Wir stellen einfach fest, dass die Veränderung in einem Zusammenhang mit dem Ausmass der Störung des Untergrundes durch das Lager stehen wird. Je grösser diese Störung sein wird (zum Beispiel je mehr die Hydrogeologie etwa durch einen Zufahrtstollen verändert wird, beziehungsweise je grösser der Durchmesser der Lagerstollen und anderen Untertageanlagen ist), desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Lager in relativ kurzer Zeit seine Integrität verlieren könnte. Die durch den Bau und Betrieb eines Lagers gestörte Lagersicherheit kann man heute darum nicht beurteilen.

Aus diesem Grund setzen sich die Blogautoren seit mindestens zwei Jahrzehnten für eine Lagerplanung ein, welche möglichst schonend mit dem künftigen Wirtgestein und dem umgebenden Lagerraum vorgeht. Wir haben etwa immer wieder darauf hingewiesen, dass ein Eingriff in den Untergrund das Vermögen des Gesteins zur Abdichtung und zum Schutz des eingelagerten Abfalls nicht überstrapazieren darf. Anders gesagt muss die Abfallqualität und die Einbring- und Verschlusstechnik der mechanischen, chemischen, physikalischen und biologischen Belastbarkeit des Wirtgesteins angepasst werden. Und nicht umgekehrt.

Dies hat weitreichende Konsequenzen und impliziert, dass nicht alle Materialien in ein Endlager gehören: zum Beispiel keine Organika, keine Gas bildenden Materialien. Oder: keine zusammenhängenden spröden Auskleidungen (zum Beispiel Beton) in einem plastischen Gestein. Oder: kleine und kurze Lagerkammern mit kleinen Durchmessern, zum Beispiel im Fischgratmuster angelegt, welche bei Bedarf eine erleichterte Rückholbarkeit erlauben. Solche grundlegenden Überlegungen fanden etwa auch in den Stellungnahmen der Kommission für die Sicherheit von Atomanlagen und danach in jenen der Kommission für nukleare Sicherheit explizit Erwähnung.[2]

    Menschliches Eindringen
    ins Tiefenlager:

Ein Lager welches man bauen, betreiben und verschliessen kann, kann man auch jederzeit von der Oberfläche anbohren, beziehungsweise durch einen Stollen- oder Schachtvortrieb wieder erschliessen. Aus heutiger Sicht hat sich in den vergangenen Jahren insbesondere die Bohr- und Schachtabsenkungstechnik derart entwickelt, dass es möglich geworden ist, Eingriffe mit grossen Durchmessern in Tiefen von hunderten bis mehr als tausend Metern in kürzester Zeit und zu tragbaren Kosten auszuführen. Ein Endlager muss nicht nur den Schutz von Mensch und Umwelt sicherstellen, es ist umgekehrt auch vom ungehinderten Zugriff durch den Mensch zu schützen.[3] Diese doppelte Aufgabe gestaltet sich deshalb so schwer, weil kaum Prognosen über das künftige Verhalten des Menschen gemacht werden können. Dieses letzte Risiko fliesst gerade deshalb in der Schweiz nicht in die Sicherheitsanalyse ein. Dass die Situation für ein Lager an der Erdoberfläche noch viel prekärer - ja mittelfristig direkt gefährlich ist - versteht sich von selbst.

Dies sind die Fakten, die allen im Prozess der Entsorgung irgendwie betroffenen Akteuren bekannt sind. Nur wird dies eben in der Öffentlichkeit nicht so kommuniziert und auch nicht so wahrgenommen. Wenn der Bundesbeschluss zum Atomgesetz 1978 etwa die "Gewähr für sichere und dauernde Entsorgung und Endlagerung" forderte, so war diese Forderung damals wie heute über die (End)-Lagerung der Abfälle nicht erreichbar. Nur hat sich die offizielle Sprachregelung von Nagra, Ensi und BFE dieser Tatsache noch immer nicht gestellt.

Bleibt also die letzte oben gestellte Frage zur Dissertation von Leni Patinaux: Wie kam Andra dazu, einen Wissenschaftler dafür zu bezahlen, die Philosophie und Strategie des Unternehmens zu erforschen? Unsere Antwort: Wir wissen es zwar nicht. Eine Antwort könnte aber sein, dass Andra die zwar bekannten, aber verdrängten, unangenehmen Wahrheiten nicht selber aufs Tapet bringen konnte und wollte. Was also besser, als solche Ergebnisse über einen aussenstehenden wissenschaftlichen Prozess einzubringen?

    "So what" (was nun)?

Das Ergebnis aus der Dissertation von Leni Patinaux enthält zwei, für die Nuklearindustrie und die sie unterstützenden Behörden besonders unangenehme Erkenntnisse: zum einen wirft sie ein schiefes Licht auf die Beeinflussungs- und Unterwanderungsstrategien der Atomindustrie auf die Sicherheits- und Kontrollbehörden und das passive Dulden dieses Prozesses durch die unterwanderten Institutionen.

Um mit dem Politikwissenschaftler Samuel Huntington zu sprechen, der diesen Begriff prägte: "regulatory capture"[4], die Kaperung des Regulators, also der Norm-setzenden, ordnenden und überwachenden Institution. Diese wird unterwandert, gerät in Abhängigkeit und verliert ihren Biss. Wir haben in Zusammenhang mit unserem Rücktritt aus den eidgenössischen Kommissionen im Jahr 2012 oft genau dieses Motiv beleuchtet, das nun Leni Patinaux aufgreift. In der Schweiz blieb das Echo auf dieses Erklärungsmuster leider gering. Die Kaperung des Regulators ist ein fundamentaler Prozess, der in allem Detaillierungsgrad untersucht gehört.

Zum anderen wird die Dissertation eine epistemologische Krise bei der Beurteilung des Stellenwerts des Sicherheitsnachweises auslösen. Was denn, wenn die ganze schöne Modelliererei und Rechnerei gar keine Langzeit-Sicherheit bieten kann? Ist die von der Atomindustrie vielgepriesene Sicherheitsanalyse für Endlager mit langen Laufzeiten dann überhaupt anwendbar? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Krise für die weitere Planung eines Endlagers? Fragen, von explosiver Bedeutung, die das Programm der nuklearen Entsorgung - so wie es heute steht - um Jahrzehnte zurückwerfen könnte. Fragen aber auch, die dringend geklärt werden müssen, bevor auf den ausgetretenen Trampelpfaden des "Sachplans geologische Tiefenlager" weitergeirrt wird. Und mit Blick auf die helvetische Situation ist noch anzufügen: Diese Aspekte des Problems haben weder die nationale Entsorgerorganisation Nagra, noch die Aufsichts- und Bewilligungsbehörden Ensi und BFE bisher begriffen. Blindheit oder Absicht?@

 

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