Schilddrüsenkrebs: 7 Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe von Dr. med. Alex Rosen Vorsitzender der IPPNW Am 25. Dezember veröffentlichte die Fukushima Medical University (FMU) die neuesten Zahlen ihrer laufenden Schilddrüsenuntersuchungen. Sie umfassen Daten, die bis einschließlich Ende September erhoben wurden. Seit 2011 werden bei Menschen in der Präfektur Fukushima, die zum Zeitpunkt der Kernschmelzen unter 18 Jahre alt waren, alle zwei Jahre die Schilddrüsen untersucht. Ursprünglich begonnen, um die Sorgen der Bevölkerung über gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophe zu zerstreuen, haben die Untersuchungen mittlerweile besorgniserregende Ergebnisse zu Tage gefördert. Von 2011 bis 2014 erfolgte die erste Untersuchungsreihe, von 2014 bis 2016 die zweite und von 2016 bis 2018 die dritte. Während die Datenaufarbeitung der ersten Runde bereits vollständig abgeschlossen ist, sind die Daten der zweiten und vor allem die dritten Untersuchungsrunde bislang noch unvollständig. Dennoch lassen sich aus den derzeit vorliegenden Untersuchungsergebnissen bereits erste Schlüsse ziehen.
35 Kinder warten noch auf OP Laut Datenbank des Japanischen Krebsregisters betrug die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) von kindlichem Schilddrüsenkrebs vor der Atomkatastrophe rund 0,35 pro 100.000 Kinder pro Jahr. Bei einer pädiatrischen Bevölkerung von rund 360.000 wären in der Präfektur Fukushima somit ca. eine einzige Neuerkrankung pro Jahr zu erwarten gewesen. Tatsächlich sind seit den multiplen Kernschmelzen im Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi mittlerweile bei 194 Kindern in der Feinnadelbiopsie Krebszellen gefunden worden. 159 von ihnen mussten aufgrund eines rasanten Tumorwachstums, einer ausgeprägten Metastasierung oder einer Gefährdung vitaler Organe mittlerweile operiert werden. In 158 Fällen bestätigte sich die feingewebliche Verdachtsdiagnose "Schilddrüsenkrebs", in nur einem Fall lag ein gutartiger Tumor vor. 35 Kinder warten weiterhin auf eine Operation.
Untersuchungsrunde: Besorgniserregend ist vor allem die Zahl der Auffälligkeiten, die bei Kindern gefunden wurden, die in den Voruntersuchungen noch keine Auffälligkeiten hatten. Insgesamt wurden von den rund 380.000 Kindern in der Untersuchungskohorte 270.000 zwei Mal per Ultraschall untersucht (ca. 70,9%). In der Gruppe der rund 270.000 untersuchten Kinder wurden bei insgesamt 161.805 (59,8%) Zysten und Knoten gesehen. Besorgniserregend ist die Tatsache, dass bei 42.433 Kindern (15,6%) in der zweiten Untersuchungsrunde Zysten und Knoten entdeckt wurden, die in der ersten Runde noch nicht sichtbar gewesen waren. Bei 393 von ihnen waren die Knoten über 5 mm groß, beziehungsweise die Zysten über 20 mm, so dass weiterführende Untersuchungen notwendig waren. Zusätzlich kam es bei 940 der Kinder, die in der Erstuntersuchung noch kleine Knoten oder Zysten hatten, zu einem so starken Wachstum, dass ebenfalls weiterführende Diagnostik durchgeführt werden musste. Bei insgesamt 205 der Patienten mit auffälligen Befunden wurden Feinnadelbiopsien durchgeführt, bei 71 ergab sich in der feingeweblichen Aufarbeitung ein Krebsverdacht. 50 dieser Kinder wurden bislang operiert, 21 Kinder warten weiterhin auf eine Operation. In allen operierten Fällen bestätigte sich die Verdachtsdiagnose eines Schilddrüsenkarzinoms. Diese 50 neuen Krebsfälle sind allesamt Kinder, die bei der Untersuchung zwei Jahre zuvor noch keine krebsverdächtigen Strukturen in der Schilddrüse hatten. 50 Neuerkrankungen in 2 Jahren entspricht einer Neuerkrankungsrate von 25 Fällen im Jahr. Bei einer bislang untersuchten Bevölkerung von 270.515 Kindern sehen wir während des Zeitraums von April 2014 und März 2016 somit eine Neuerkrankungsrate von rund 9,2 Fällen pro 100.000 Kinder pro Jahr. Noch stehen rund 30% aller Ergebnisse aus - bei über 100.000 Kinder liegen noch keine Daten aus der Zweituntersuchung vor. Sollte sich dieser Trend jedoch bestätigen, würde dies einem rund 26-fachen Anstieg der Neuerkrankungsrate entsprechen. Dieses Ergebnis ist höchst signifikant und lässt sich aufgrund der eindeutigen Voruntersuchungen aller Patienten auch nicht durch einen Screening-Effekt erklären oder relativieren. Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklungen muss daran erinnert werden, dass Schilddrüsenkrebs trotz relativ guter Behandlungmöglichkeiten keine Bagatellerkrankung ist und mit schwerwiegenden Einschränkungen der Lebensqualität und der Gesundheit einhergehen kann. Laut einer Studie der japanischen Stiftung für Kinder mit Schilddrüsenkrebs hatten zudem bereits knapp 10% der operierten SchilddrüsenkrebspatientInnen Rezidive, also neue Krebsgeschwüre, die erneut operativ entfernt werden mussten: bei 8 von 84 betreuten Kindern aus der Präfektur Fukushima kam der Krebs innerhalb weniger Jahre wieder.
Untersuchungsrunde Während die zweite Untersuchungsrunde noch läuft, hat im Mai 2016 bereits die 3. Untersuchungsrunde begonnen (geplantes Ende März 2018). Bei den mittlerweile 161.881 untersuchten Kindern (48,1% der geplanten Anzahl von Untersuchungen) wurden bei 95.620 Kindern (59%) Knoten oder Zysten in der Schilddrüse gefunden. Bei 16.228 Kindern (10%) wurden in der dritten Untersuchungsrunde Zysten und Knoten entdeckt, die in der zweiten Runde noch nicht sichtbar gewesen waren. Bei 84 von ihnen waren die Knoten über 5 mm groß, beziehungsweise die Zysten über 20 mm, so dass weiterführende Untersuchungen notwendig waren. Zusätzlich kam es bei 336 der Kinder, die in der zweiten Untersuchungsrunde noch kleine Knoten oder Zysten hatten, zu einem so starken Wachstum, dass ebenfalls weiterführende Diagnostik durchgeführt werden musste. Bei insgesamt 22 der Patienten mit auffälligen Befunden wurden Feinnadelbiopsien durchgeführt, bei 7 ergab sich in der feingeweblichen Aufarbeitung ein Krebsverdacht. Alle dieser Kinder wurden bislang operiert, in allen Fällen bestätigte sich die Verdachtsdiagnose eines Schilddrüsenkarzinoms. Ein Großteil der Daten aus der dritten Untersuchungsrunde steht noch aus, so dass abschließende Bewertungen noch nicht durchgeführt werden können, doch der Trend aus der zweiten Untersuchungsrunde scheint sich fortzusetzen.
der Krebsfälle Eines der zentralen Argumente der FMU gegen einen Zusammenhang zwischen den Kernschmelzen von 2011 und der erhöhte Rate an Schilddrüsenkrebsfällen in der Präfektur Fukushima war stets, dass die örtliche Verteilung der Fälle nicht zur Verteilung der radioaktiven Isotope passen würde. Ende Dezember veröffentlichten die Wissenschaftler jedoch neue Zahlen, die eben diese geographische Verteilung zu belegen scheinen. Zum Verständnis: die Präfektur Fukushima besteht aus drei Verwaltungsbezirken: dem westlichen Aizu, dem zentralen Nakadori und dem östlichen Hamadori, in dem das havarierte AKW Fukushima Dai-ichi liegt. Dieser Bezirk wurde von den WissenschaftlerInnen der FMU für die Ultraschall-Studie in 4 Untersuchungsregionen aufgeteilt: die 13 Ortschaften rund um das AKW weisen die höchste radioaktiven Verseuchung auf und bilden eine eigene Untersuchungsregion. Die Regionen rund um die Ortschaft Soma im Norden und die Ortschaft Iwaki im Süden wurde von den Wissenschaftlern als (Rest-)Hamadori bezeichnet. Die radioaktive Verseuchung hier ist im Vergleich zu Teilen des zentralen Bezirks Nakadori noch relativ gering. So lässt sich die Reihenfolge der Untersuchungsregionen mit abnehmendem Grad der radioaktiven Verseuchung wie folgt angeben: 13 Ortschaften rund um Fukushima Dai-ichi, gefolgt von Nakadori, (Rest-)Hamadori, Aizu. Ungefähr entlang dieser Regionen erfolgten auch die Schilddrüsenuntersuchungen: zunächst in den am stärksten verseuchten 13 Ortschaften rund um das AKW (April 2011-März 2012), dann in Teilen von Nakadori (April 2012-März 2013), abschließend im Norden und Süden von Hamadori, in Teilen von Nakadori und in Aizu (April 2013-März 2014). Diese zeitliche Abfolge erschwerte bislang die Interpretation der Zahlen, da zwischen den Untersuchungen in den hochgradig verseuchten Regionen und den weniger verseuchten Regionen wie Soma, Iwaki und Aizu teilweise mehr als zwei Jahre lagen. Im Dezember präsentierte die FMU nun eine Tabelle mit "bereinigten" Zahlen, die die unterschiedlichen zeitlichen Abfolge der Untersuchungen berücksichtigen sollte. Interessant ist, dass diese Aufstellung erstmalig auch offizielle Angaben zur Inzidenz von Schilddrüsenkrebs enthalten, also der Rate an Neuerkrankungen pro 100.000 Kinder pro Jahr. In der letzten Zeile der Tabelle ist zu erkennen, dass die Inzidenz sich je nach Region deutlich unterscheidet: am niedrigsten ist die Inzidenz mit 7,7 Fällen von Schilddrüsenkrebs pro 100.000 Kindern pro Jahr in der am wenigsten radioaktiv verseuchten Region Aizu. Mit einer Inzidenz von 9,9 Fällen pro 100.000 Kindern pro Jahr liegt an zweiter Stelle der Teil von Hamadori, der ebenfalls nur eine geringe radioaktive Verseuchung aufweist. Höher ist die Inzidenz in der stärker radioaktiv verseuchten Region Nakadori (13,4 Fälle pro 100.000 Kindern pro Jahr) und am höchsten in den 13 am stärksten verseuchten Ortschaften rund um das AKW (21,4 Fälle pro 100.000 Kindern pro Jahr). Da sich die Zahlen der FMU an dieser Stelle anders als unsere Angaben nicht ausschließlich auf bewiesene Schilddrüsenkrebsfälle bezieht, sondern verdächtige Befunde aus der Feinnadelbiopsie mit einschließen, liegt die durchschnittliche Inzidenz für ganz Fukushima mit 13,4 Fällen pro 100.000 Kindern pro Jahr auch deutlich höher als unsere Zahl von 9,2 Fällen pro 100.000 Kindern pro Jahr. Zur Erinnerung: die übliche Inzidenz von kindlichem Schilddrüsenkrebs lag in Japan vor Fukushima bei 0,35 Fällen pro 100.000 Kindern pro Jahr.
Studie zu entwerten Den Verantwortlichen der FMU scheinen diese Daten unangenehm zu sein, widersprechen sie doch der seit Beginn der Atomkatastrophe verbreiteten These, dass der mehrfache Super-GAU zu keinen zusätzlichen Krebserkrankungen führen würde. Die FMU steht seit Beginn der Atomkatastrophe unter großem politischen Druck von Seiten der atomfreundlichen Zentralregierung und der mächtigen Atomindustrie im Land. Auch erhält sie finanzielle und logistische Unterstützung der internationalen Atomlobby in Form der IAEO, die an der Gestaltung der Schilddrüsenkrebsstudie beteiligt ist. All dies stellt die wissenschaftliche Unabhängigkeit der FMU in Frage. Zahlreiche BeobachterInnen und JournalistInnen in Japan kritisieren aktuell die Bestrebungen der FMU, die Schilddrüsenuntersuchungen zu reduzieren und gegebenenfalls ganz einzustellen. So sollen die Untersuchungsintervalle entgegen ursprünglicher Pläne und Ankündigungen ab dem 25. Lebensjahr von 2 auf 5 Jahre ausgeweitet werden. Seit längerem ist zudem bekannt, dass MitarbeiterInnen der FMU Schulen besuchen, um dort Kinder über deren "Recht auf Nichtteilnahme" und "Recht auf Nichtwissen" aufzuklären. Neuerdings gibt es auf den Formularen auch eine entsprechende "opt-out" Option, also eine Möglichkeit, aus dem Screening entfernt zu werden. Dies ist bemerkenswert, da die Teilnahme ja ohnehin freiwillig ist und bereits jetzt 20-30% der Kinder aus der Untersuchungskohorte nicht an den Untersuchungen teilnehmen. Kritisch wird auch gesehen, dass die Kosten für die Untersuchungen ab Erreichen des 18. Lebensjahres nicht mehr vollständig erstattet, sondern von den Patienten und deren Familien selbst erbracht werden müssen. Es ist zu vermuten, dass die Bemühungen der FMU darauf abzielen, die Teilnahmequote weiter zu reduzieren und durch eine systematische Verzerrung der Testergebnisse langfristig die gesamte Studie zu entwerten - eine Konsequenz, die der japanischen Atomindustrie nicht gerade unlieb sein dürfte.
Krebsfälle Wie schwer es ist, sich auf die offiziellen Zahlen zu verlassen, zeigt sich anhand von zwei besonders offensichtlichen Fällen von Datenmanipulation. Anfang 2017 ging die Familie eines an Schilddrüsenkrebs erkrankten Kindes an die Öffentlichkeit und monierte, dass der Fall ihres Kindes in den offiziellen Daten der FMU nicht auftauchte. Die Studienleitung argumentierte, dass die Diagnose des Kindes nicht durch sie gestellt worden war, sondern durch eine kooperierende Klinik, an die der Junge zur weiteren Diagnostik und Therapie überwiesen wurde. Dass der Junge zum Zeitpunkt der Kernschmelzen in Fukushima gelebt hatte, in die Reihenuntersuchung der FMU aufgenommen war und aufgrund einer neu diagnostizierten Schilddrüsenkrebserkrankung operiert werden musste, wurde von der Studienleitung dabei nicht für relevant gehalten. Ende Dezember wurde nun ein weiterer Fall von Schilddrüsenkrebs bekannt, der in den offiziellen Statistiken der FMU nicht vorkommt. Der Patient lebte zwar zur Zeit der Kernschmelzen in der Präfektur Fukushima und nahm an der Erstuntersuchung der Universität statt, wurde jedoch aus seiner Heimatstadt Koriyama evakuiert, so dass die Diagnose und die Operation an Schilddrüsenkrebs außerhalb der Präfektur statt fand und somit nicht in die offizielle Statistik aufgenommen wurde. Wie viele weitere Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern ebenfalls nicht berichtet wurden, wie viele Fälle außerhalb der Grenzen der Präfektur auftraten oder bei Menschen, die zum Zeitpunkt der Kernschmelzen bereits über 18 Jahre alt waren - all dass wird wissenschaftlich nicht untersucht und damit vermutlich nie bekannt werden.
auf Gesundheit Es bleibt festzustellen, dass wir in Fukushima einen signifikanten Anstieg der Neuerkrankungsraten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern sehen und dass diese Zahlen aufgrund der besonderen Abhängigkeit der Studienleitung von der Atomlobby und der restriktiven Auslegung der Studie gleichzeitig eine systematische Unterschätzung darstellen dürften. Zudem wird auch von einem Anstieg weiterer Krebsarten und anderer Erkrankungen gerechnet, die durch ionisierte Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Die Schilddrüsenuntersuchungen der FMU stellen die einzigen wissenschaftlichen Reihenuntersuchungen dar, die überhaupt relevante Aufschlüsse über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima liefern können. Und sie laufen derzeit Gefahr, von den Befürwortern der Atomenergie unterminiert zu werden. Die Menschen in Japan haben wie alle Menschen ein Recht auf Gesundheit und ein Recht auf Information. Die Untersuchungen kindlicher Schilddrüsen kommt somit nicht nur den Patienten selber zu Gute, deren Krebserkrankungen frühzeitig detektiert und behandelt werden können, sondern der gesamten Bevölkerung, die durch die freigesetzte Strahlung beeinträchtigt wird. Die korrekte Fortführung und wissenschaftliche Begleitung der Schilddrüsenuntersuchungen liegen somit im öffentlichen Interesse und dürfen nicht durch politische oder wirtschaftliche Beweggründe konterkariert werden. @ | ||
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