International und herrschaftskritisch
gegen die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und für ein gutes Leben von Ulrich Brand Die Diskussion um Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus wird in Lateinamerika schon seit der Jahrtausendwende intensiv geführt. Die Konzepte, auf die sich soziale Bewegungen, aber auch die in vielen Ländern etablierten linken und links-liberalen Regierungen auf der Suche nach grundlegenden Alternativen beziehen, unterscheiden sich auf den ersten Blick stark von der Degrowth-Perspektive. Dennoch, so möchte ich hier argumentieren, kann die Degrowth-Bewegung davon einiges lernen. Erläutern möchte ich das anhand der Debatte um den Post-Extraktivismus, einer kritischen Diskussion um das aktuell vorherrschende Entwicklungsmodell in Lateinamerika, das mitunter als Neo-Extraktivismus bezeichnet wird. KritikerInnen des Neo-Extraktivismus in Lateinamerika sehen die Gefahr einer verstärkten Abhängigkeit der Region vom Weltmarkt durch die Konzentration auf Praktiken der Ressourcen-Extraktion wie Bergbau, agrarindustrielle Monokulturen, Kohle, Öl- und Gasförderung. Als Folge dieser Wirtschaftsweise warnen sie vor der wachsenden Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen, der Abwälzung von Kosten und negativen Konsequenzen auf andere, den sozialen und ökologischen Kosten sowie einer zunehmenden Ignoranz der politischen EntscheidungsträgerInnen gegenüber sozialen und politischen (Minderheiten-)Rechten. So wird in Bezug auf die unterschiedlichen Praktiken der Ressourcen-Extraktion auf territoriale Transformationsprozesse hingewiesen, die in eine Neuordnung von Landschaften, sozialen Verhältnissen und Arbeitsbeziehungen sowie in räumliche Zersplitterung resultieren. Kennzeichen dieser Prozesse sind: neue Grenzziehungen und Einhegungen; die Herausbildung von Enklaven-Ökonomien; die Verhängung exklusiver Nutzungsrechte; die Entdemokratisierung der Frage der Naturnutzung; sowie umfassende ökologische Zerstörungen. Beim Neo-Extraktivismus handelt es sich um ein Entwicklungs- und Gesellschaftsmodell, das in dominanter Weise auf der Ausbeutung von Rohstoffen und der Aneignung der Einnahmen aus den Rohstoffrenten durch lokale Eliten, den Staat sowie nationale oder transnationale Unternehmen basiert. Die auch aus Degrowth-Sicht kritisierte Fortsetzung ressourcenintensiver Lebens-, Konsum- und Produktionsweisen im globalen Norden und Süden könnte dem Neo-Extraktivismus weiter Auftrieb geben. Denn die Nachfrage nach Rohstoffen steigt. Umso wichtiger erscheint es, die Degrowth- und die Post-Extraktivismus- Debatte in einen Dialog miteinander zu bringen. Denn die Realisierungschancen einer Degrowth-Perspektive und von Alternativen zum Ressourcen- Extraktivismus werden ganz entscheidend davon abhängen, auch die internationalen politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Verhältnisse zu verändern. Die Aufrechterhaltung einer im Norden weitgehend durchgesetzten und sich in vielen Ländern des globalen Südens ausweitenden imperialen Produktions- und Lebensweise – samt ihren macht- und herrschaftspolitischen, sozialstrukturellen und weltmarktvermittelten Implikationen – ist ein zentrales Hindernis für jegliche Alternativen. Post-Extraktivismus
Kritik an der kapitalistischen Moderne – Post-Kolonialismus: Hiervon ausgehend wird in der lateinamerikanischen Debatte zwischen drei Formen des Extraktivismus unterschieden: einem derzeit dominierenden plündernden (depredador) Extraktivismus, einem behutsamen (sensato) mit gewissen ökologischen und sozialen Standards und einem für die gesellschaftliche Entwicklung unverzichtbaren (indispensable) Extraktivismus, wobei die Kriterien der Unverzichtbarkeit selbst gesellschaftlich auszuhandeln sind. Im Grunde kann man bei der dritten Variante nicht mehr von Extraktivismus als Entwicklungsmodell sprechen, sondern eher von umsichtigen und gesellschaftspolitisch vereinbarten Formen der Rohstoffextraktion und -nutzung. Verbunden mit dieser Perspektive sind Ansprüche an eine Dekolonisierung des Wissens und der Wissenssysteme, denn die europäische instrumentelle und imperiale Logik wird kritisiert und abgelehnt. Krisendiagnose: In der Post-Extraktivismus-Debatte wird meist davon ausgegangen, dass es sich aktuell um eine umfassende Zivilisationskrise handelt. Das geht deutlich über Diagnosen einer Wirtschafts- und Finanz- oder multiplen Krise hinaus.
Erfahrung sozialer Mobilisierung:
Territorialität:
Ziele eines neuen Gesellschaftsmodells:
Verbindung ökonomischer, sozialer und ökologischer Fragen:
Naturverständnisse, Naturverhältnisse, Rechte der Natur:
Macht- und Herrschaftsverhältnisse: grundlegende Alternativen
Post-Extraktivismus als neuer Begriff und Bedingung für gutes Leben In Lateinamerika gibt es viele Begriffe für grundlegende Alternativen. Degrowth oder Postwachstum gehören definitiv nicht dazu. Derzeit spielt insbesondere in den Andenländern der Begriff des guten Lebens eine wichtige Rolle (buen vivir, buenos conviveres; im ecuadorianischen Quichua: sumak kawsay; im bolivianischen Aymara: suma qamaña). Die Regierungsübernahme durch linke Präsidenten in Bolivien (2005) und Ecuador (2006) ging einher mit der Ausarbeitung neuer Verfassungen, in denen diese Länder unter anderem als plurinationale Staaten konstituiert, die Autonomie der indigenen Völker anerkannt und vergrößert und die Rechte der Natur verankert wurden. Das gute Leben ist nun sogar in beiden Verfassungen als Staatsziel festgeschrieben. Diese Diskussionen spielen andererseits in Ländern wie Brasilien keine Rolle. Am ehesten könnte dort der Begriff der Umweltgerechtigkeit die vielfältigen Widerstände und Alternativen charakterisieren. In vielfältigen konkreten Auseinandersetzungen geht es hier um Ernährungssouveränität, Recht auf Stadt, StaatsbürgerInnenschaft und anderes – Aspekte, die zunehmend mit der Idee eines guten Lebens verbunden werden. Als ein Bindeglied könnte dabei das Konzept Post-Extraktivismus dienen. Es entsteht aus einer doppelten Konstellation aus erfolgreichen Mobilisierungen gegen die neoliberalen Politiken, Wirtschaftsmodelle und Kräfteverhältnisse einerseits, Kritik am Neo-Extraktivismus andererseits. Der Versuch, den Begriff Post-Extraktivismus zu konturieren und zu stärken, kann als Versuch verstanden werden, zum einen die Bedingungen für Ansätze des guten Lebens überhaupt erst zu schaffen und zum anderen in die Auseinandersetzungen darum mit einer radikalen Position einzugreifen. Notwendig ist dabei auch eine inhaltliche Spezifizierung des Begriffs des gu ten Lebens, weil es sich um ein hochgradig umkämpftes politisches und Wissens-Terrain handelt. So heißt der Nationale Entwicklungsplan Ecuadors auch Plan del Buen Vivir, der zwar die Abkehr vom Neo-Extraktivismus anstrebt, diese in der Praxis aber nicht einlöst. Ob die aktuellen Vorschläge des Buen Vivir in Lateinamerika mit einer Degrowth-Perspektive im Sinne von Dematerialisierung, Dekommodifizierung und Dezentralisierung einhergehen, ist nicht ausgemacht. Kritik an und Widerstände gegen die neo-extraktivistischen Praktiken gibt es allerorten. Es wehrt sich zuvorderst die direkt von den neo-extraktivistischen Wirtschaftsaktivitäten negativ betroffene lokale Bevölkerung. Wenn von Bergbauunternehmen ganze Berge abgetragen werden und enorme Mengen an Süßwasser verbraucht werden, um etwa Gold zu gewinnen, und die abgetragene Erde als Schutt an andere Regionen verbracht wird, führt dies zur Politisierung und gegebenenfalls Organisierung der lokalen Bevölkerung. Diese Prozesse werden häufig von kritischen NGOs und WissenschaftlerInnen unterstützt. Diese stellen Wissen darüber bereit, welche wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Konsequenzen der großräumige Bergbau hat, und enttarnen etwaige falsche Versprechen der Investoren in Sachen Arbeitsplätze und Wohlstandsschaffung. Die Unterstützung schafft zudem in vielen Fällen eine gewisse mediale Sichtbarkeit. Eine wichtige Entwicklung in den letzten Jahren ist die wachsende Koordinierung der Widerstände in regionalen und nationalen Foren, um sich auszutauschen, gemeinsame Strategien zu beraten und an Alternativen zu arbeiten. Auch dadurch wird der Widerstand zunehmend auf regionaler, nationaler und sogar internationaler Ebene sichtbar. Der Kritik geht es zuvorderst darum, die Umkämpftheit und Kosten des bestehenden Entwicklungsmodells sichtbar zu machen. Mit dem Begriff des Post-Extraktivismus sollen diese vielfältigen Kritiken, Widerstände und Alternativen in ihren Gemeinsamkeiten verbunden und dadurch gestärkt werden. Das ist umso wichtiger, da außerhalb der Extraktionsregionen und auf nationaler Ebene lange Zeit und bis heute die negativen Folgen der Aktivitäten im Bergbau, bei der Förderung fossiler Energieträger oder im industriell-landwirtschaftlichen Bereich ignoriert oder unterdrückt werden. Degrowth und Post-Extraktivismus gemeinsam gegen den neoliberalen Kapitalismus, der immer stärker auf die Kommodifizierung von sozialen Verhältnissen und Naturelementen setzt Degrowth und Post-Extraktivismus identifizieren die tief verankerten Vorstellungen und Praktiken von Fortschritt und Wachstum als zentrales Problem. Beide bringen verschiedene Krisenelemente und Konfliktachsen analytisch zusammen und entwickeln eine gesamtgesellschaftliche Perspektive. Soziale Ungleichheit und die ökologischen Probleme bilden zentrale Kritikpunkte. Es herrscht Konsens, dass ein Großteil der bekannten Reserven an fossilen Energieträgern im Boden bleiben muss. Beide Perspektiven werden vor allem von progressiven Kräften (politisch links beziehungsweise wissenschaftlich kritisch) genutzt, um gegen die fortbestehenden Entwicklungs- und Wachstumsorientierungen – inklusive der Varianten grünes Wachstum und "nachhaltige Entwicklung" – anzugehen. Verwiesen wird dabei auch auf Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen; insofern beabsichtigen beide Positionen, Verteilungsfragen zu politisieren und damit der häufig anzutreffenden Verengung der progressiven wirtschaftsund gesellschaftspolitischen Debatte zu begegnen. Es sind insofern Positionen gegen falsche Alternativen, gegen zu realpolitische Perspektiven. Andere Vorstellungswelten (imaginaries; imaginarios) und deren Entstehung sind zentral für Veränderungen. Beide Perspektiven setzen auf soziale Kräfte, die willens sind, sich weitreichende Veränderungen vorzustellen und diese voranzutreiben. Dabei sind weder ein Masterplan noch eine einheitliche Strategie beabsichtigt: Strategien, Initiativen und Bündnisse sind kontextabhängig zu entwerfen – oder sie entstehen ganz praktisch – und zu verfolgen. Es besteht wenig Vertrauen in bestehende gesellschaftliche und politische Institutionen wie Staat, Markt oder Öffentlichkeit, ohne dass deren Bedeutung für Transformationsprozesse negiert wird. Insbesondere der Staat, der in anderen progressiven Ansätzen als zentraler Veränderungsmotor gilt, wird als zutiefst mit einem als problematisch erachteten Entwicklungsmodell (mehr dazu unten) verbunden verstanden. Die Degrowth- wie auch die Post-Extraktivismus-Perspektive stützen sich auf einen alternativen Wohlstandsbegriff, der politische Gestaltung, sozial-ökologisch verträgliche Produktion und ein attraktives Leben für die Menschen umfasst. Die destabilisierenden Formen des kapitalistischen Wachstums und die damit verbundenen Interessen müssen verändert werden. Damit werden gesellschaftliche Bedingungen denkbar, unter denen Menschen ihre Individualität entfalten und leben können – und zwar in einem solidarischen sozialen Zusammenhang, der ja erst die Bedingung freier Persönlichkeitsentwicklung ist. Bei aller Unterschiedlichkeit (siehe unten) beinhalten beide Perspektiven schließlich scharfe Kritiken am herrschenden Wissen (Post-Extraktivismus) beziehungsweise an den herrschenden Wissenschaften (Degrowth; insbesondere an der Neoklassik und der neoklassischen Umweltökonomik, aber auch am Keynesianismus). Vom Post-Extraktivismus lernen ein grundlegend herrschafts-kritisches Verständnis des Kapitalismus
Aus meiner Sicht betont die Post-Extraktivismus-Perspektive deutlicher als Degrowth die herrschaftlichen und zerstörerischen Mechanismen des (post-)kolonialen, patriarchalen und hierarchisierenden Kapitalismus. Die Erfahrungen des Weltmarkts und imperialer Politik, die Dynamiken der Kommodifizierung und Unterwerfung sind sehr präsent. In den lateinamerikanischen Diskussionen werden die diversen bestehenden Probleme ungleich deutlicher in Verbindung mit der herrschenden kapitalistischen Produktionsund Lebensweise gebracht. Denn diese ist nicht nur ein Produktions- und Konsumsystem, sie ist auch ein System von Macht und Herrschaft – auch und gerade über die Natur. Von diesem grundlegenderen Verständnis von Kapitalismus könnte die Degrowth-Perspektive profitieren. Die Perspektiven sind auch in weiterer Hinsicht gegenseitig anregend: Die Degrowth-Perspektive zielt auf einen freiwilligen, reibungslosen und gerechten Übergang zu einem Regime mit weniger Produktion und Konsum ab, dabei geht es häufig um konkrete Alternativen und Nischen. Der Post-Extraktivismus würde dem vor dem Hintergrund lateinamerikanischer Erfahrungen entgegenhalten, dass diese freiwillige und reibungslose Idee die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, tief verankerte Denkmuster, materialisierte Strukturen und entgegenstehende Interessen unterschätzen könnte. In Lateinamerika sind die Konflikte viel deutlicher, und entsprechend werden sie auch expliziter thematisiert. Die Kritik am Neo-Extraktivismus ist eng mit einer Kritik an den gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen verbunden, mittels derer sich bestimmte Formen der Naturaneignung und -beherrschung durchsetzen. So wird in der Debatte "Alternativen zu Entwicklung" (Lang/Mokrani 2013) eine weitreichende Kritik am Entwicklungsdenken und den damit verbundenen Praktiken formuliert. Diese Debatte geht vom globalen Süden aus und kann dadurch die Probleme des Südens aus eigener Sicht einbringen. De facto ist auch die Degrowth-Perspektive ein Einsatzpunkt in gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnisse. Doch dies wird nicht oder kaum thematisiert und müsste explizit gemacht werden. Eine wichtige Anregung für die Degrowth-Debatte kann meines Erachtens auch die Kritik am westlichen, rationalistischen und dichotomisierenden Naturverständnis und an den entsprechenden Naturverhältnissen liefern. Eine solche Perspektive ist nicht neu für die europäische Diskussion, in der Degrowth-Perspektive ist sie aber bislang kaum verwurzelt. Die Diskussion um die Rechte der Natur kann und sollte im Bereich Degrowth stärker geführt werden. Globale Intervention Post-Extraktivismus als Versuch, die Bedingungen für ein gutes Leben zu schaffen und mit einer radikalen Position in die Auseinandersetzungen einzugreifen Post-Extraktivismus ist ein glokales Unterfangen, reicht also von der lokalen über die nationale, regionale bis hin zur globalen Ebene – und wieder zurück. Für die Degrowth-Perspektive und eine eventuell unter diesem Begriff entstehende Bewegung ist es zentral, die Verstrickungen der in Europa dominanten imperialen Produktions- und Lebensweise mit anderen Weltregionen zu verdeutlichen. Sonst droht Degrowth provinziell zu werden und die zerstörerischen Grundlagen der eigenen Alternativen zu übersehen. Der portugiesische Rechts- und Sozialwissenschaftler Boaventura de Sousa Santos spricht von einer "Epistemologie des Südens" (Santos 2008), die – zusammen mit dem Kolonialen und den Zuflüssen natürlicher Ressourcen aus dem globalen Süden – im Wissen und in den Praktiken des globalen Nordens negiert wird. Jegliche alternative Perspektive in Europa und damit auch Degrowth sollte die emanzipatorischen Kämpfe und Alternativen in anderen Teilen der Welt zur Kenntnis nehmen und mit den eigenen Ansätzen ins Verhältnis setzen. Im Kern geht es darum, überall in der Welt andere Formen von Wohlstand und gutem Leben zu denken und zu realisieren – gegen die Zumutungen des kapitalistischen Wachstumsimperativs, der damit verbundenen Erniedrigung und Ausbeutung, gegen die rassistischen, patriarchalen und imperialen Verhältnisse und die allgegenwärtige Ausbeutung der Natur. Eine solidarische und ökologisch nachhaltige Produktions- und Lebensweise zu schaffen, das eint die vielfältigen Kämpfe in der Welt, von denen Degrowth ein wichtiger Teil ist. |
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