Degrowth und Post-Extraktivismus:

Zwei Seiten einer Medaille

von Ulrich Brand

Die Diskussion um Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus hat sich, insbesondere in Europa, seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise intensiviert. In Lateinamerika ist das schon länger der Fall, nämlich seit Beginn der Jahrhundertwende. Während auf dem "Alten Kontinent" Austeritätspolitiken dominieren, haben sich im Süden des "Neuen Kontinents" in vielen Ländern linke und links-liberale Regierungen etabliert. Die von ihnen vorangetriebenen, als "neo-extraktivistisch" bezeichneten Entwicklungsmodelle sind nicht frei von Widersprüchen und generieren Kritik. In beiden Teilen der Welt gibt es weiterhin Anlass, grundlegende Alternativen zu entwickeln bzw. voranzutreiben.

Zwei Diskussionsstränge hier wie dort sind besonders vielversprechend, wenn es um alternative Perspektiven und Praktiken geht: Der um Degrowth (übersetzt als Postwachstum, Wachstumsrücknahme, Entwachsen, Wachstumswende) in Süd- und Westeuropa einerseits und jener um Post-Extraktivismus in Lateinamerika. Letztere bezieht sich kritisch auf das aktuell vorherrschende Entwicklungsmodell in Lateinamerika, das mitunter als "Neo-Extraktivismus" bezeichnet wird.

Bislang werden die Perspektiven und damit verbundenen Erfahrungen und Strategien kaum aufeinander bezogen. Das ist erstaunlich. Denn die Realisierungschancen einer Degrowth-Perspektive und Alternativen zum Ressourcen-Extraktivismus werden ganz entscheidend davon abhängen, auch die internationalen politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Verhältnisse zu verändern. Die Aufrechterhaltung einer im Norden weitgehend durchgesetzten und sich in vielen Ländern des Globalen Südens ausweitenden "imperialen Produktions- und Lebensweise" samt der damit verbundenen macht- und herrschaftspolitischen, sozialstrukturellen und weltmarktvermittelten Implikationen ist ein zentrales Hindernis für jegliche Alternativen. (....) Ausblick und offene Fragen Begriffe existieren nicht losgelöst von gesellschaftlicher Realität, von Interessen und Machtverhältnissen. Sie sind Ausdruck gesellschaftlicher Praxis und leiten diese an. Sie benennen, d.h. sie machen bestimmte Sachverhalte sichtbar; und sie entnennen, machen also andere unsichtbar. Das betrifft auf der gesellschaftlichen Ebene zentral den kaum hinterfragbaren Wachstumsbegriff, in Lateinamerika wird dieser komplementiert bzw. mehr noch synonym gesetzt mit Entwicklung.

Aus einer sehr allgemeinen Perspektive könnte konstatiert werden, dass die Degrowth-Debatte radikaler und realitätsgerechter wird, wenn Erfahrungen und Diskussionen in Gesellschaften des globalen Südens systematisch berücksichtigt werden. Die Perspektiven Degrowth und Post-Extraktivismus sind zwei Seiten einer globalen und welthistorisch jungen Medaille in den Auseinandersetzungen für solidarische Lebens- und Naturverhältnisse. Das Potenzial einer gemeinsamen Verständigung könnte anstatt mit Termini wie Degrowth und Post-Extraktivismus eher über Begriffe wie Gutes Leben oder Wohlstand - eines anderen, emanzipatorischen und nachhaltigen Wohlstands - funktionieren.

Wohlstand und Gutes Leben sind jedoch nicht einfach "da" und etwa an materiellen oder sozial und ökologisch produzierten Gütern messbar, sondern es handelt sich dabei um komplexe soziale Verhältnisse, um erfülltes und herrschaftsarmes (Zusammen-)Leben, Freiheit und Glück, Wechselseitigkeit, Leben in einer lebenswerten sozialen und natürlichen Um- und Mitwelt. Es geht um die konkreten Formen, wie über (welt-)gesellschaftlich organisierte Versorgungssysteme solidarisch und für alle und von allen Menschen auskömmlich Ernährung und Wohnen, Kleidung, Mobilität und Kommunikation organisiert werden.

Diese Verständnisse und Praktiken wären Teil herrschaftsarmer Konstellationen mit dem breit akzeptierten Anspruch, be-/entstehende Strukturen und Prozesse von Macht und Herrschaft aufzuspüren, zu kritisieren und zu verändern. Es handelt sich - mit Gramsci gesprochen - um überlegene moralische Auffassungen eines attraktiven Lebens, um - so Hans Thie bei einem Workshop in Anlehnung an Hegel - leise Aufklärung, derzufolge sich Maßstäbe dahingehend wandeln, dass morgen nicht mehr richtig ist, was heute dafür gehalten wird.

Abschließend sollen einige offen Fragen und weitere Anregungen formuliert werden.

Zum einen würden beide Perspektiven von einem expliziteren und kritischen Staats- und Politikbegriff profitieren (Jessop 2007). Häufig changiert die Bezugnahme auf den Staat einerseits als Instanz der Bearbeitung von Problemen (angetrieben von kritischen Debatten, Bewegungen, den Problemen selbst) und andererseits als Teil des Übels.

Die kritische Staats- und Politiktheorie in der Tradition von Gramsci und Poulantzas, die den (westlichen wie post-kolonialen) Staat als umkämpftes soziales Verhältnis versteht und gleichzeitig als Instanz, die zuvorderst die herrschenden Verhältnisse stabilisiert, könnte hier zu Präzisierungen beitragen. Dann stellen sich politisch-strategisch Fragen, wie emanzipatorische Errungenschaften gesellschaftlich abgesichert werden können und welche Rolle hier der Staat spielt.

Zweitens werden die internationale Dimension und insbesondere die Wirkung des Weltmarktes und der Geopolitik kaum betont. In der Post-Extraktivismus-Debatte ist der Weltmarkt präsenter, da der Gegenstand der Auseinandersetzung - das neo-extraktivistische Entwicklungsmodell - hochgradig weltmarktvermittelt ist. Gleichwohl werden Alternativen in Lateinamerika kaum auf der Ebene der Weltwirtschaft und Weltpolitik, sondern allenfalls kontinental, meist aber in nationalstaatlichem Rahmen gedacht.

Es fehlt, zugespitzt formuliert, eine Berücksichtigung der vielfältigen Erfahrungen und Diskussionen zum Thema Imperialismus. Wenn auch die Degrowth-Perspektive den Denk- und Handlungsraum für tiefgreifende Veränderungen öffnen möchte, dann kommt sie um eine kritische politische Ökonomie und politische Ökologie der Globalisierung nicht herum.

Das bedeutet konkret, die zu verändernden politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Verhältnisse - wie auch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse - in einen globalen Kontext zu stellen und im Rahmen einer kritischen Theorie sozial-ökologischer Transformation zu untersuchen. Dazu bedarf es einer kritischen Theoretisierung, aber auch eines Dialoges der Wissensformen. Ich selbst argumentiere zuvorderst vor dem Erfahrungshintergrund des globalen Nordens, obwohl ich durchaus die Erfahrungen und Debatten in Lateinamerika berücksichtige.

Das kapitalistische Weltsystem und seine grundlegende Veränderung wäre nicht nur jeweils für Degrowth und Post-Extraktivismus wichtig, sondern gerade der zentrale gegenseitige und gemeinsame Bezugspunkt. Im Ressourcenboom und den damit verbundenen Interessen, in den Produktions- und Lebensweisen, in den räumlich und zeitliche Ungleichzeitigkeiten, den neu-alten "inneren und äußeren Landnahmen" werden die kritisierten und zu verändernden Verhältnisse mehr oder weniger krisenhaft stabilisiert. Es könnte offengelegt werden, dass eben nicht alle "gewinnen" - weder im Globalen Norden, noch im Globalen Süden - bei Aufrechterhaltung oder gar Intensivierung der ressourcenintensiven Produktions- und Lebensweise.

Damit sind wir bei kulturellen Fragen. Hollender spitzt das folgendermaßen zu: "Perhaps the biggest challenge facing post-growth frameworks is the way that growth has become embedded in cultural norms, values, and behaviors." Kristina Dietz weist auf den Vorteil einer verflechtungsgeschichtlichen Perspektive von Wachstum und Ressourcenausbeutung im Globalen Norden und Globalen Süden hin: Entwicklung, Wachstum und Fortschritt sind demzufolge durchdrungen von Macht und Herrschaft, das betrifft auch die herrschaftlichen gesellschaftlichen Naturverhältnisse.

Wenn der Neo-Extraktivismus mehr ist als eine ökonomische Strategie, sondern als komplexes und hochgradig verflochtenes Modell verstanden wird; wenn er nicht nur abhängig von Natur ist und diese zerstört, sondern mannigfaltige soziale Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, Arbeit und Arbeitsteilung, politische Organisationsformen und staatliche Terrains, Subjektivitäten und gesellschaftliche Vorstellungen strukturiert, dann müsste eine Post-Extraktivismusstrategie darauf abzielen, "das aktuelle (Re-)Produktionsmodell und die dieses tragenden politischen Strukturen als Ganzes in Frage zu stellen.

Mit Blick auf die breitenwirksamen Erfolge und die transnationale Verflechtung des Modells, ist das eine schwierige Aufgabe." Emanzipatorische Ansätze im Globalen Süden, die unter dem Begriff des Post-Extraktivismus gefasst werden könnten, bedürfen Veränderungen in Lateinamerika und des Globalen Nordens.

"Post-Extraktivismus und Post-Wachstum sind zwei Seiten derselben Medaille; als solches sollten sie auch in den wachstumskritischen Diskussionen behandelt werden."

Ein dritter Punkt, der auch auf der Konferenz in Leipzig aufgeworfen wurde, müsste m.E. expliziter diskutiert werden: Die Frage der Grenzen (limits/límites). Die Diskussion läuft ja zuvorderst im Hinblick auf ökologische bzw. planetarische Grenzen und wird in Begriffen wie peak oil versucht zu politisieren. Doch was geben uns die naturwissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse in biophysikalische Grenzen und mögliche Umschlagpunkte gesellschaftspolitisch vor?

Wir sehen aktuell, dass die Entdeckung und Förderung von "unkonventionellem" Gas und Öl alle Prognosen zu peak oil über den Haufen wirft. Das bedeutet nicht, dass es solche Grenzen nicht gibt (etwa Umschlagpunkte beim Klima), doch sie können Kritik und emanzipatorische Politik nur begrenzt anleiten. Zudem sind Grenzwerte wie das 2-Grad-Ziel beim Klimawandel eher politisch festgelegt als Folge wissenschaftlicher Einsicht.

Oben argumentierte ich, dass die wachstumskritische Debatte Gefahr läuft, aus meiner Sicht zentrale Momente wirtschaftlichen, d.h. kapitalistischen Wachstums zu unterschätzen; nämlich ihren herrschaftlichen Gehalt. Das deutet sich in vielen Beiträgen mit Begriffen wie "Befreiung von Herrschaft", "Gleichheit ist Glück" oder den tief verankerten "mentalen Infrastrukturen" an. Dafür bedarf es m.E. einer weiteren Präzisierung, was unter kapitalistischen Wachstum bzw. Kapitalismus überhaupt verstanden wird.

Viele Beiträge bleiben hier unbestimmt und verstehen unter Wachstum die Zunahme von materieller Produktion und Konsum, ohne nach deren Charakter als kapitalistische, patriarchale, rassifizierte oder postkoloniale soziale Verhältnisse zu fragen. Ähnliches gilt für die unterschiedlichen Ansätze im Themenfeld Post-Extraktivismus. Vom Ton deutlich kritischer, bleiben der Kapitalismusbegriff und die Verwobenheit unterschiedlicher sozialer Verhältnisse dennoch oft unterbestimmt.

Es liegen daher noch einige wissenschaftliche Herausforderungen vor uns, deren kollektive Bearbeitung dringend notwendig ist.@

externer Link kolleg-postwachstum.de/.../wp5_2015.pdf [PDF]

 

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