Anreize und Druck
Rückkehr ins Ungewisse


von Martin Kölling

Die Regierung gibt immer mehr Gebiete wieder zur Besiedlung frei und fordert die ehemaligen Bewohner zur Rückkehr auf.

Doch dabei hat Japans Ministerpräsident Shinzo Abe, der die Atomkraft wiederbeleben will, die Rechnung ohne die Betroffenen gemacht. Die meisten ignorieren den Ruf von Heimat und Regierung. Nur ein Fünftel der Häuser in den wieder freigegebenen Regionen werden wieder bewohnt – und dies meist nur von Senioren.

Die meisten Familien mit Kindern bleiben hingegen fern. So werden im April in Teilen der Gemeinden Namie und Tomioka sowie der Dörfer Iitate und Katsurao wieder Schulen öffnen. Doch nur vier Prozent der ehemaligen Schüler kehren zurück. Ein Grund für das Zögern ist, dass viele Familien sich an ihren neuen Wohnorten eingewöhnt haben. Ein zweiter ist das Leben vor Ort. Schließlich werden die Bewohner auf Schritt und Tritt an den Atomunfall erinnert.

Selbst in frei gegebenen Orten sind die Berge oft noch gesperrt, weil sie nicht entseucht werden können. Radioaktivitätsmessungen sind daher noch Alltag. Und oft lagern die abgetragenen, strahlende Erde abgepackt in großen Säcken auf großen Halden im Umkreis der Siedlungen. Sorgenfreies Leben sieht anders aus.


    Misstrauen in der Bevölkerung
     
Und dann ist da noch das tiefe Misstrauen in die amtlichen Radioaktivitätsmessungen und vor allem die Grenzwerte. Greenpeace unterstützt die Skepsis. Selbst in einigen freigegebenen Gebieten in Namie und Iitate übersteige die Strahlung Werte, "die strikte Kontrollen erfordern würden, wenn es sich um Atomanlagen handeln würde," erklärte die Umweltschutzorganisation in einem Anfang März veröffentlichten eigenem Messbericht.

In einigen Gegenden der untersuchten Orte würden die Strahlendosen erst Mitte dieses oder Anfang nächsten Jahrhunderts auf den von der deutschen Regierung empfohlen Schwellenwert von einem Millisievert pro Jahr sinken, meint Greenpeace. Die anti-Atomkraftaktivisten kritisieren, dass die Regierung derzeit noch das 20-fache für zumutbar hält.

    Der stille Widerstand der Bevölkerung

Doch Japan wäre nicht Japan, wenn das Land nicht auf seine ganz eigene Art und Weise mit dem Problem der Atomkraft umgehen würde: ohne sichtbaren Massenprotest, aber mit zähem Widerstand gegen die Energiepolitik der Regierung.

Auf der einen Seite ist Ministerpräsident Shinzo Abe, der die Atomindustrie wieder groß machen will. Derzeit wird nur rund ein Prozent des Stroms durch Atomkraftwerke erzeugt, da die meisten der 48 Meiler weiterhin abgeschaltet sind. Aber die Regierung verspricht in ihrer nationalen Energiestrategie, den Anteil von Atomstrom wieder auf über 20 Prozent zu erhöhen.

Auf der anderen Seite gilt dies als unrealistisch. Denn dafür müsste nicht nur die Laufzeit von Reaktoren verlängert, sondern auch neue Reaktoren gebaut werden. Doch beides ist politisch schwer durchsetzbar. Denn es mag in Japan keine offen sichtbare anti-Atombewegung geben, die mit Massendemonstrationen gegen die Regierung protestiert. Aber lokal ist der Widerstand zäh.

Zudem hat die anti-Atomkraftbewegung einen einflussreichen Fürsprecher. Junichiro Koizumi, Abes ehemaliger politischer Mentor und Vorgänger als Ministerpräsident, hat sich nach dem Unfall vom Atomkraftbefürworter zum -gegner gewandelt. Erst vorige Woche forderten er und andere bekannte Politiker erneut, rasch aus der Atomkraft auszusteigen und massiv erneuerbare Energieträger zu fördern.

Aber Koizumi weiß, dass für eine energiepolitische Wende zuerst Abe gestürzt werden muss. "Wenn man sich seine früheren Bemerkungen anschaut, glaube ich nicht, dass wir null Prozent Atomkraft verwirklichen können, solange Abe an der Macht ist", sagte Koizumi. "Aber ich denke, dass wir es schaffen können, wenn er durch einen Ministerpräsidenten ersetzt wird, der bereit ist, auf die Bevölkerung zu hören."

Das wahrscheinlichste Ergebnis ist, dass dieses Tauziehen zwischen Atomkraftfans und -Gegnern weitergehen wird und Japans Energiepolitik noch Jahre lang im Niemandsland herumgeistert. Doch plötzlich eröffnet sich eine minimale Chance, dass Koizumis Wunsch schon dieses Jahr erhört wird.

Im September steht die Präsidentschaftswahl in Abes liberaldemokratischer Partei an. Bisher galt Abes Wiederwahl als sicher. Doch plötzlich kocht ein alter Skandal um Gefälligkeiten für eine rechtsextreme Privatschule wieder auf. 2016 wurde dem Schulträger Moritomo Gakuen in Osaka Land zu einem Bruchteil des Marktwerts verkauft. Pikanterweise war Abes Frau Akie Abe im Schulvorstand.

Nachdem der Deal voriges Jahr ruchbar wurde, war Abes Popularität bereits massiv abgestürzt. Abe saß den Skandal zwar erfolgreich aus. Doch am Freitag gestand das Finanzministerium, dass Beamte Berichte über den Verkauf an Parlamentarier frisiert hatten, um den Deal als normal erscheinen zu lassen. "Das Wiederauftauchen des alten Skandals, die drohende riskante Debatte über eine Verfassungsreform und die Vorbereitungen möglicher Rivalen, Abe herauszufordern, könnte seine Wiederwahl unerwartet schwierig machen", warnt Tobias Harris, Japan-Experte des Sicherheitsberaters Teneo Intelligence.

Bei aller politischen Unsicherheit ist jedoch eines klar. Die Gedenktage an den 11. März 2011 werden in Japan etwas besonders bleiben. Schließlich konnten die Schäden anderer Erdbeben schnell repariert werden. Aber die Spuren der Katastrophentrinität aus Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe werden noch Jahrzehnte sichtbar sein, vor allem beim AKW Fukushima 1@.

in: handelsblatt.com



Greenpeace-Fukushima-Report:
  Radioaktivität in wiederbesiedelten
  Regionen nach wie vor zu hoch

Japans Versuche, die Region um das AKW Fukushima von Strahlung zu säubern, sind gescheitert, das zeigt ein Greenpeace-Report. Trotzdem sollen die Evakuierten zurück in ihre Häuser.

Die neuen Messergebnisse von Greenpeace zeigen: Die radioaktive Strahlung in der Gegend um Fukushima ist nach wie vor gesundheitsschädigend hoch. Daran ändern auch die großangelegten Dekontaminierungsbemühungen der japanischen Regierung wenig.

    Zu viel Strahlung

Bald wird sie eröffnet, die neue Schule von Iitate. 92 Kinder sind angemeldet; sie werden lachend über die Flure stürmen und Mathe in den Klassenzimmern büffeln. Bloß draußen spielen dürfen sie nicht. Denn auf dem Hügel hinter der Schule lauert die Radioaktivität. Das Dorf Iitate liegt 40 Kilometer nordwestlich von Fukushima, dem Atomkraftwerk, das am 11. März 2011 explodierte und die Gegend weiträumig verstrahlte. Sechs Jahre lang war das Dorf verlassen, die Bewohner evakuiert. Nach großangelegten Säuberungsaktionen kehren seit März vergangenen Jahres die ersten Menschen in ihre verlassenen Häuser zurück.

Viele sind es nicht, die meisten haben Angst. Sie wollen nicht wiederkommen, wie Frau Kanno und Toru Anzai. Und das zu Recht, wie der neue Greenpeace-Report zeigt: Die Messungen belegen, dass in den Häusern der beiden die Strahlung nach wie vor zu hoch ist.

Gerade einmal 500 der einst 6000 Bewohner leben inzwischen wieder in Iitate. Und das, obwohl die japanische Regierung großzügige finanzielle Unterstützung zahlt für die, die kommen. Den Menschen hingegen, die lieber nicht zurückkehren wollen in die einstige Sperrzone, streicht sie die Entschädigungsleistungen. Auch Teile des evakuierten Namie sollen wieder bewohnt werden. Die Stadt mit einst 20.000 Einwohnern liegt 15 Kilometer näher am AKW Fukushima als Iitate.

    Überall Messstationen -
    doch keine Sicherheit

Wer zurückkommt, wird gründlich dabei begleitet. Jedes wiederbezogene Haus erhält eine leuchtende Anzeigetafel, die permanent die aktuelle Radioaktivität verkündet. In der lokalen Tageszeitung stehen die Strahlenwerte der offiziellen Messstationen neben den lokalen Wetterdaten. Das soll Vertrauen einflößen. Doch viele Menschen sind beunruhigt.

Wie berechtigt diese Angst ist, zeigt wieder einmal der jährliche Greenpeace-Report mit den Strahlenmessergebnissen aus der Region. Im Herbst vergangenen Jahres hatte das Messteam einige Dörfer, Teile von Namie innerhalb und außerhalb der Sperrzone und eine Durchfahrtsstraße auf 25 Kilometer Länge gründlich untersucht. Außerdem wurden exemplarisch in neun Häusern an hunderten von Punkten Langzeitmessungen durchgeführt.

Eins dieser Häuser ist das von Ms. Kanno, einer ehemaligen Bewohnerin von Namie: Trotz aller Dekontaminierungsbemühungen der japanischen Regierung sinkt auch im siebten Jahr nach dem atomaren Super-GAU die Strahlenbelastung nicht ausreichend. Sie liegt mit 1,3 bis 5,8 Mikrosievert pro Stunde um das Fünf- bis 20-fache über dem Grenzwert dessen, was die japanischen Behörden als vertretbare Höchstbelastung festgelegt haben.

    Wenn der Stein
    am Wegrand strahlt

Anderes Beispiel: Ein radioaktiver Hotspot keine 50 Meter neben der Straße 114, die Namie nach Nordwesten hin mit dem Umland verbindet. Im September vergangenen Jahres wurde die Route, die durch die Sperrzone führt, für die Öffentlichkeit freigegeben. Zufällig stieß das Greenpeace-Team bei seinen Messungen auf den Hotspot – der Geigerzähler zeigte 137 Mikrosievert pro Stunde. Alle Geräte schlugen Alarm. Doch für Menschen ohne Geigerzähler verrät nichts die immense Gefahr: kein Warnsignal, keine Färbung, kein Geruch.

Das ist gewiss im Sinne der japanischen Regierung. Denn eigentlich möchte die die Bevölkerung glauben machen, die Radioaktivität wurde beseitigt. In einer Mammutaktion hat die Regierung die Häuser und Dörfer waschen lassen, hat Erde abgetragen und verstrahlte Wiesen abgemäht. Überall in der Region stapeln sich die Säcke mit dem Müll dieses sinnlosen Versuches, kleine Wohninseln in einer verstrahlten Region von der Strahlung zu befreien.

    Radioaktive Bergwälder

Sinnlos, weil die Bergwälder ringsherum weiterhin radioaktiv verseucht sind. Jedes Staubkorn von dort kann Cäsiumpartikel mit ins Haus schleppen. Denn die Regierung kann zwar Milliarden dafür ausgeben, Häuser und Straßen waschen zu lassen. Aber sie kann dem Wind nicht verbieten, abends aus den Hügeln zu wehen. Oder dem Regen, von den verstrahlten Bäumen abzutropfen und in Rinnsalen ins Dorf zu fließen. Und niemand kann kontrollieren, ob die Kinder, die bald in Iitate zur Schule gehen, nicht vielleicht einen falschen Stein aufheben, durch eine Matschpfütze springen oder eine Walderdbeere naschen.

Doch obwohl die jährlichen Greenpeace-Messungen immer wieder belegen, dass die Versuche Japans, die Region zu dekontaminieren, gescheitert sind, obwohl viele Menschen sich weigern, zurückzukehren und mittlerweile sogar vor dem UN-Menschenrechtstribunal gegen das japanische Vorgehen klagen, hält die Regierung von Ministerpräsident Shinzo Abe an diesem Unterfangen fest. Mehr noch: Das Dekontaminierungsprogramm soll sogar noch ausgeweitet werden. Ab April 2018 sollen Arbeiter anfangen, auch hochverstrahlte Ortsteile in Namie und anderswo in der Sperrzone 3 (höchste Stufe) von der Radioaktivität zu säubern. Das treibt den Irrsinn des bisherigen Projektes weiter auf die Spitze, denn schon heute weiß kein Mensch, wohin mit den tausend und abertausend Tonnen Atommüll, die dabei eingesammelt werden. Damit setzt Japan mutwillig weitere zigtausend Arbeiter einer Gefahr aus, die zu keinem Ziel führt – nur, um sich und seiner Bevölkerung nicht eingestehen zu müssen, dass Atomkraft eben doch hochgefährlich ist. Und ein Super-GAU in keiner Weise beherrschbar.@

greenpeace.de/themen/energiewende-atomkraft/atomunfaelle/rueckkehr-ins-ungewisse 1.3.18

 

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